Die Reaktionen in den vergangenen Wochen hätten nicht emotionaler sein können. Nach fast einem halben Jahr Pause wegen einer Hodenkrebs-Diagnose feierte Sébastien Haller im Trainingslager beim Test gegen Fortuna Düsseldorf (5:1) sein Comeback bei einem Fußball-Spiel. Zum ersten Mal überhaupt trug der Ivorer das Trikot von Borussia Dortmund. Wenige Tage später, beim Test gegen Basel traf er erstmals für den BVB, erzielte sogar einen Dreierpack.
Nun steht der Bundesliga-Start in die zweite Saisonhälfte gegen Augsburg (Sonntag, 15.30 Uhr) an. Im Trainingslager hatte Haller noch gesagt, dass alles möglich sei: "In meinem Kopf gibt es keine Grenzen. Ich werde mein Bestes geben, um am 22. Januar dabei zu sein."
Das hat er geschafft. Auf der Pressekonferenz vor dem Spiel verkündete BVB-Trainer Edin Terzić sichtlich stolz, dass sich Haller sehr gut präsentiert habe und sich alle freuen, dass er wieder komplett zur Gruppe gehöre.
Ob der Angreifer gegen Augsburg zum Einsatz kommt, wollte Terzic aber nicht sagen. "Ob er von Beginn an spielt, oder eingewechselt wird oder nicht eingewechselt wird, klären wir unter vier Augen."
Schon am Dienstag im Rahmen des Neujahrsempfangs der DFL war Dortmund-Sportdirektor Sebastian Kehl zumindest guter Dinge. Gegenüber Sky sagte der 42-Jährige, dass Haller sich in den letzten Tagen "herausragend" entwickelt habe. Er fügte an: "Er hat nahezu alle Trainingszeiten absolviert und das intensive Trainingslager ganz gut weggesteckt. Nach so einer langen Erkrankung weiß man nicht, was das mit dem Körper macht. Dass er mental unglaublich stark ist und eine unglaubliche Persönlichkeit ist, wusste ich vorher."
Zu diesem Zeitpunkt ließ der BVB-Boss noch offen, worauf viele Dortmund-Fans gehofft hatten: Haller steht im Kader für das Augsburg-Spiel. Ziemlich genau sechs Monate nach seiner Diagnose könnte Haller demnach sein Debüt für den BVB in einem Pflichtspiel geben. Dabei verwunderte, wie schnell sich der Stürmer nach der Chemotherapie und zwei Operationen wieder fit ist.
Für Prof. Dr. Mark Schrader vom Helios Klinikum in Berlin ist das allerdings nicht überraschend. Er ist Chefarzt der Urologie und ordnet im Gespräch mit watson mögliche Folgen der Krebserkrankung auf die Leistungsfähigkeit von Haller ein: "Wenn die Chemotherapie durchgeführt wurde, ist man ein bisschen eingeschränkt, aber selbst das kann durch Medikamente gelöst werden. Außerdem leidet die Lungenfunktion ein bisschen, aber sonst ist man topfit."
Auch langfristig gibt Schrader Entwarnung für Haller und auch andere Betroffene: "Weitere Schäden einige Wochen oder Monate später sind nicht zu erwarten." Außerdem sei das Risiko, dass erneut ein Tumor im Hoden aufritt relativ gering. "Üblicherweise liegt es bei drei bis fünf Prozent", ergänzt Schrader.
Dem Mediziner war es im Gespräch mit watson sehr wichtig darauf hinzuweisen, dass die Tumorerkrankung im Hoden nicht auf ein Fehlverhalten zurückzuführen sei. Zu viel Rauchen, Trinken oder ähnliches beeinflusse sie nicht, genauso wenig, wie zu viel, zu wenig oder der falsche Sport.
Vielmehr erklärt Schrader: "Sie können das Risiko nicht beeinflussen, es steht zu 100 Prozent fest." Schon vor der Geburt stehe fest, ob ein Mann diese Erkrankung bekommen könne oder nicht. "Die Mütter haben vor der Geburt zu viel Östrogen zu sich genommen, sodass eine Stammzellendifferenzierung ausblieb. Das kann man nach der Geburt nachweisen. Ungefähr 30 Jahre später entstehen dann diese Tumore. Das kann nach der Geburt nicht mehr beeinflusst werden", sagt Schrader.
Besonders viel Aufsehen hat Hodenkrebs in der deutschen Öffentlichkeit dadurch bekommen, dass 2022 nicht nur bei Haller diese Erkrankung festgestellt wurde. Auch bei Hertha-Profi Marco Richter und bei Timo Baumgartl von Union Berlin wurden Hoden-Tumore festgestellt. Beide kehrten bereits wieder zurück auf den Fußball-Platz.
Diese Fälle haben allerdings keinen Ansturm auf die Vorsorgeuntersuchungen ausgelöst. Laut Schrader seien zwar mehr Fußball-Fans zu seinen Untersuchungen erschienen. "Insgesamt ist allerdings nur von einer leichten Erhöhung zu sprechen", stellt der Mediziner klar.
Auch die generelle Tendenz sei eher gleichbleibend. Schrader führt aus: "Die Menschen gehen sporadisch zur Untersuchung, wenn im engeren Familien- oder Freundeskreis ein Fall bekannt wird oder eben, wenn es prominente Persönlichkeiten trifft, die damit an die Öffentlichkeit gehen."
Da die Stammzellendifferenzierungen schon im Kindesalter feststellbar wären, könnte sogar schon frühzeitig das Hodenkrebs-Risiko diagnostiziert werden. Schrader stellt aber auch klar: "Man müsste eine Gewebeprobe entnehmen, weil diese Fehlbildungen nicht im Ultraschall auffallen." Der Aufwand sei dafür allerdings sehr groß. Er fügt an: "Zehn unter 100.000 Männer haben solch eine Art Tumor pro Jahr. Man müsste demnach 100.000 Männer biopsieren, um auf die zehn Fälle zu kommen."
In Deutschland erkranken jährlich zwischen 4000 und 5000 Männer an Hodenkrebs. Die Biopsie und die Vorsorge sind allerdings nicht die einzigen Möglichkeiten, eine mögliche Erkrankung zu erkennen. Schrader empfiehlt: "Die Männer sollten regelmäßig die Hoden nach Verhärtungen abtasten."