Die Lichter gehen aus im Stade de France. Hundert, tausend, zehntausend kleine Punkte flimmern auf in der bis zum Bersten gefüllten Leichtathletik-Arena. Khishane Thompson betritt das Stadion, richtet seinen Urschrei in den Pariser Nachthimmel, Fred Kerly klopft sich mit zusammengebissenen Lippen auf die Brust. Und dann kommt Noah Lyles.
Wie ein tollwütiges Rumpelstilzchen hüpft er aus dem Eingang heraus, reißt die Arme nach oben, sprintet, zappelt, 20, 30, 40 Meter, an seinen Mitstreitern vorbei, Richtung Publikum. Das Stadion tobt. Lyles holt sich am Ende Gold über 100 Meter.
Ein Tag später. Zwei magnesiumbestaubte Hände deuten dem Publikum zum rhythmischen Klatschen. Mit einer leichten Kopfbewegung haucht sich Armand Duplantis eine Strähne aus dem Gesicht, den Stab fest umgriffen. Stampfende Schritte, energetischer Absprung, grazil, in einem Fluss, wuchtet er seinen Körper über die 6,25 Meter hohe Stange. Weltrekord.
Die Leichtathletik ist alle vier Jahre das Herzstück der Olympischen Spiele, irgendwo zwischen Oscars und Super Bowl. Eleganz und Rhythmus treffen auf Brachialität und Rücksichtslosigkeit. Alle vier Jahre ist es das Event der Spiele. Und verschwindet danach in der allgemeinen Wahrnehmung wieder in der Versenkung.
Dabei ist der Sport gespickt mit hinreißend unterhaltsamem Personal: Noah Lyles, dem schnellsten Entertainer der Welt, Sha'Carri Richardson, die vor einigen Jahren kurzzeitig für Cannabis-Konsum gesperrt wurde, oder Armand Duplantis, vom "New Yorker" als "Timothée Chalamet des Stabhochsprungs" betitelt. Wie also kann es sein, dass die allermeisten Menschen vor zwei Wochen noch nie von diesen Ausnahmesportler:innen gehört haben?
Von Alfred Hitchcock ist das Zitat überliefert, dass man nur drei Dinge brauche, um einen großartigen Film zu machen: "das Drehbuch, das Drehbuch und das Drehbuch." Wenn also Sport Unterhaltung ist, und Unterhaltung das Erzählen von Geschichten ist, braucht es: Geschichten.
Die Mittelstreckenläufer Josh Kerr und Jakob Ingebrigtsen haben das verstanden. Ingebrigtsen entschuldigte eine Niederlage gegen Kerr einmal damit, dass er krank war. Bei voller Gesundheit hätte er "mit verbundenen Augen" gewonnen. Kerr wiederum sagte, seinem Gegenüber fehle es an Manieren und er sei von "Ja-Sagern" umgeben. Die wenigsten werden je von der Rivalität gehört haben.
Das liegt zum einen daran, dass die große Stärke des Sports gleichzeitig eine enorme Schwäche darstellt: Je nach Zählart gibt es 25 bis 30 Disziplinen, die zur Leichtathletik gehören, wobei sich alleine die Laufwettbewerbe in unzählige Distanzen aufgliedern. Sich mit jeder Disziplin, allen Details und Spitzfindigkeiten, zu beschäftigen, kann überfordernd sein.
Das heißt auch: Die Masse an Wettbewerben führt zu einer Masse an Teilnehmenden. Wie soll man den Überblick behalten? Und vor allem: Wann lassen sich die Geschichten überhaupt erzählen?
Die Olympischen Spiele finden nur alle vier Jahre statt, dazwischen werden in den ungeraden Jahren Weltmeisterschaften und in den geraden Jahren Europameisterschaften abgehalten. Olympia ist auch für die Athlet:innen der klare Höhepunkt, wenn ein Olympia-Jahr auf die EM fällt, lassen viele das Kontinentalturnier ausfallen. Sprich: Es gibt keine konstante Sichtbarkeit.
Wie soll man als geneigter Zuschauer Emotionen zu Personen aufbauen; woher soll man überhaupt wissen, mit wem man mitfiebern kann, wenn die entsprechenden Athlet:innen nur alle zwei, eher alle vier Jahre auf der ganz großen Bühne performen?
Wie soll ein Storytelling zwischen den Wettbewerben passieren, wenn man die Protagonist:innen nie sieht?
Die Bundesliga findet jede Woche statt, es gibt eine Serialität. Durch Wiederholung und ausgewählte Teilnehmer lässt sich das Konstrukt öffentlichkeitswirksam vermarkten. Und: Mannschaftssportarten haben den Vorteil, dass sich Zwistigkeiten, Mythen und Legenden auf wenige Akteure reduzieren lassen. Im Individualsport hat jeder Mensch eine eigene Geschichte.
Hinzukommt, dass sich in dem Zeitraum zwischen den Wettbewerben das gesamte Personal, hunderte von Athlet:innen, über alle Sportarten hinweg, komplett verändern kann. Anders gesagt: Wie erzählt man Geschichten, wenn keiner zuhört?
Das Problem hat mittlerweile auch der Leichtathletikverband erkannt und die sogenannte "Diamond League" gegründet. Seit 2010 wird die Liga als jährlich stattfindende Leichtathletik-Serie ausgetragen, sie umfasst 15 Termine, sogenannte "Meetings".
Das Problem: Für die absoluten Topathlet:innen ist es kaum möglich, zwischen Olympia, WM und EM an allen Terminen teilzunehmen, weil es schlicht nicht realistisch ist, so häufig im Jahr die beste Leistung abzurufen. Das wiederum delegitimiert den Wettbewerb, der im Umkehrschluss weniger wert ist, wenn die Besten nicht teilnehmen.
Nun soll ein neuer Wettbewerb das Problem lösen: der klangvolle "World Athletics Ultimate Championship". Ab 2026 wird das Event künftig alle zwei Jahre stattfinden. Über den Zeitraum von drei Jahren sollen dabei die Gewinner:innen von WM, Olympia und Diamond League sowie die leistungsstärksten Athlet:innen des Jahres gegeneinander antreten.
Mit höheren Preisgeldern und mehr Action wolle man "jährlich einen Moment mit maximaler Zuschauerreichweite" generieren, sagt Weltverbandspräsident Sebastian Coe.
Einen anderen Ansatz verfolgt der ehemalige Sprinter Michael Johnson. Er hat den "Grand Slam Track" ins Leben gerufen, der ausschließlich Laufwettbewerbe umfasst. Dabei sollen nach dem Vorbild der Grand Slams im Tennis viermal jährlich zwischen April und September Läufe stattfinden, wobei je acht Athlet:innen in einer von zwölf Gruppen antreten. 2025 beginnt die erste Saison.
Das erklärte Ziel: die Leichtathletik im öffentlichen Bewusstsein zu stärken und die Popularität der Sportart zu fördern. Er wolle ein fernsehfreundliches Produkt anbieten, sagte Johnson gegenüber "Sportico", "um die größten Stars des Sports zu fördern und neue Zuschauer durch einzigartiges Storytelling zu gewinnen".
Der Fokus auf die Laufwettbewerbe hat den Vorteil, dass ihnen die Aufmerksamkeit zukommt, die ihnen bislang verwehrt geblieben ist. Weil die Leichtathletik immer parallel stattfindet, wird während der Rennen – vor allem bei Olympia und Mittel- bis Langstreckenläufen – regelmäßig zu parallel stattfindenden Sportarten gewechselt. Taktik, Dynamik und Momentum, also die Aspekte, die den Sport so besonders machen, werden buchstäblich zerschnitten.
Am Donnerstag, beim 200-Meter-Finale der Männer, hat sich Letsile Tebogo überraschend Gold geholt. Favorit Noah Lyles, dessen Corona-Erkrankung später bekannt gegeben wurde, ist nur Dritter geworden. Tebogo wurde danach gefragt, ob er das Gesicht der Leichtathletik sein wolle.
Seine Antwort: "Ich kann nicht das Gesicht der Leichtathletik sein, weil ich kein so arroganter oder lauter Mensch bin wie Noah." Klingt fast wie der Beginn einer wunderbaren Fehde.