Am Abend des 18. Dezember 2022 war die Fußball-Welt für kurze Zeit mit sich im Reinen. Lionel Messi, der womöglich beste Fußballer aller Zeiten, hatte sein Lebenswerk in dem wohl bisher spektakulärsten WM-Endspiel in der Geschichte des Fußballs gekrönt. Durch den 4:2-Sieg im Elfmeterschießen gegen Frankreich stellt er sich auch in Argentinien endgültig auf einer Stufe mit Volksheld Diego Maradona.
Doch die Freude des neutralen Fans wurde schnell getrübt. Bei der Pokalübergabe wurde Messi vom katarischen Emir ein Bischt, ein klassisches arabisches Gewand, über die Schultern gehängt. Seine Jubelpose mit dem Pokal in der Hand wird so nun für immer in den Geschichtsbüchern des Fußballs zu sehen sein. Es passte auch zu einem Turnier, mit dem sich die europäische Fußball-Welt nie wirklich anfreunden konnte.
Vor und während der Endrunde wurde vor allem in Deutschland immer wieder auf die Menschenrechtslage im Wüstenemirat aufmerksam gemacht, es wurden Boykotte gefordert und mancherorts boykottiert und die Symbolkraft einer Kapitänsbinde tagelang debattiert.
Doch nun ist der globale Fußballzirkus seit sieben Monaten aus Katar abgezogen. Von all diesen Themen ist nichts mehr zu hören. Also hat die Fifa ihre Ankündigung wahr gemacht und hat die laut Verbandspräsident Gianni Infantino "beste WM aller Zeiten" das Wüstenemirat wirklich zu einem besseren Ort gemacht?
Mitnichten. Ellen Wesemüller, Pressesprecherin bei Amnesty International Deutschland, stellte im Gespräch mit watson klar: "Bei den tatsächlichen Verbesserungen vor Ort müssen wir feststellen, dass keine großen Veränderungen stattgefunden haben, seitdem die Öffentlichkeit weitergezogen ist. Es fanden auch keine neuen Reformen oder Verbesserungen an den alten Reformen statt, die eingeleitet worden sind."
Damit das Vermächtnis einer Weltmeisterschaft auch wirklich ein Vermächtnis bleibt, schlug Amnesty dem Weltverband konkrete Punkte vor. Einerseits ein Zentrum für Arbeitsmigrant:innen, in denen sie sich über ihre Rechte informieren, Beratungen stattfinden und sie sich zusammenschließen können, um ihre Rechte durchzusetzen.
"Aber weder das Zentrum für Arbeitsmigrant:innen wurde eröffnet, noch hat sich die Fifa hinter die Forderung gestellt, einen Entschädigungsfonds aufzusetzen, der ausreichend ausgestattet und zugänglich für alle Menschen ist, denen Menschenrechtsverletzungen widerfahren sind", erzählt Wesemüller.
Die katarischen Behörden seien weiterhin der Meinung, dass ihre getroffenen Maßnahmen ausreichen würden.
Auf dem Fifa-Kongress im März wurde bekannt, dass die Fifa einen Untersuchungsausschuss eingerichtet hat, der nochmal prüfen solle, welche Menschenrechtsverletzungen aufgetreten sind und ob diese ausreichend entschädigt worden sein.
Da die ganze Weltöffentlichkeit nun aber nicht mehr auf Katar schaut, glaubt Menschenrechtsexpertin Wesemüller, dass "die katarische Regierung gerade keine Notwendigkeit sieht, ihre Reformen weiterzutreiben oder die Lücken, die diese Reformen noch haben, zu schließen."
Dass die Fifa vor und während des Turniers argumentierte, dass die Menschenrechte und Reformen erst durch die WM möglich seien, kann sie nicht nachvollziehen.
"Es ist nicht deshalb passiert, weil die Fifa die WM dort hat stattfinden lassen, sondern weil es einen Aufschrei der Zivilgesellschaft durch Menschenrechtsorganisationen, Fangruppen, Gewerkschaften und irgendwann auch Verbände gab, die das gefordert haben", erklärt die Menschenrechtsexpertin.
DFB-Präsident Bernd Neuendorf gab sich jedoch vergangenes Jahr optimistisch, dass Turniere wie die Weltmeisterschaften in Russland 2018 und Katar 2022 nicht mehr möglich seien. "Die Fifa hat eine Menschenrechtspassage aufgenommen, was die Vergabe von künftigen Weltmeisterschaften angeht, das gab es vorher so nicht", sagte er bei einer Veranstaltung in Dortmund.
Bereits 2017 hatte sich der Weltverband in seine Statuten geschrieben, die "Menschenrechte zu respektieren und zu fördern."
Amnesty zweifelt an dieser Umsetzung. "Es wäre jetzt an der Zeit, die Frage der Entschädigung nicht mehr auf die lange Bank zu schieben, sondern sofort Maßnahmen zu ergreifen, um den Geschädigten Wiedergutmachung zukommen zu lassen", ordnet Wesemüller ein.
Ein weiterer Kritikpunkt: Diese Vorgabe gilt ausschließlich für die WM, nicht aber für die Fifa Klub-Weltmeisterschaft, die in diesem Jahr beispielsweise in Saudi-Arabien stattfindet.
Die Menschenrechtlerin ergänzt: "Zudem ist es nochmal etwas anderes, Pläne zur Minimierung von Menschenrechtsrisiken im Bewerbungsprozess vorzulegen und die dann auch in der Praxis umzusetzen. Wir fordern auch von der Fifa, dass sie eine Art Exitstrategie erarbeitet, wie sie sich wieder rauszieht, wenn sie merkt, dass dieses Land zwar Dinge versprochen hat, sie in der Praxis aber nicht umsetzt."
In Saudi-Arabien findet Ende des Jahres nicht nur die Klub-Weltmeisterschaft statt, sondern womöglich auch in den kommenden Jahren eine Weltmeisterschaft der Nationalmannschaften.
Die Menschenrechtslage in Saudi-Arabien ist auch trotz der Millionen-Wechsel von Weltstars wie Cristiano Ronaldo oder Karim Benzema weiterhin erschreckend. Die brutale Ermordung des Regime-kritischen Journalisten Jamal Kashoggi 2018 ist nur einer von vielen Fällen. 2022 wurden in einer Massenhinrichtung 81 Todesurteile an einem einzigen Tag vollstreckt, insgesamt waren es im vergangenen Jahr sogar 148.
Das Recht auf eine freie Meinungsäußerung ist stark eingeschränkt, zudem haben Frauen kaum Rechte.
Lange Zeit hielt sich das Gerücht, dass sich der Wüstenstaat im Rahmen seiner Vision 2030, mit der er sich weiter für die westliche Welt öffnen möchte, auch für die Ausrichtung der WM 2030 bewirbt.
Im Mai 2024 stimmen beim nächsten Fifa-Kongress die 211 Mitgliedsverbände über den Austragungsort der Endrunde 2030 ab. Wie die spanische Zeitung "Marca" berichtete, soll Saudi-Arabien sich dafür aber nicht bewerben. Ursprünglich soll es den Plan gegeben haben, dass sie das Turnier gemeinsam mit Ägypten und Griechenland ausrichten.
Der Vorsprung der Mitbewerber Marokko, Spanien und Portugal und dem Quartett Argentinien, Uruguay, Chile und Paraguay soll ihnen aber bereits zu groß sein.
Doch Saudi-Arabien wird sich nun wohl um die Ausrichtung des Turniers 2034 bemühen. Daher der Vorschlag von Amnesty: Bewerber-Nationen, die den Aktionsplan für Menschenrechte nicht zulassen, werden zur Abstimmung gar nicht erst zugelassen.
Doch egal, wann sich der Wüstenstaat bewerben sollte, eine Sache hat die WM in Katar gezeigt: "Ich habe den Eindruck, dass Menschenrechtsorganisationen und auch einige nationale Fußballverbände weiter an diesen Themen arbeiten. Auch die Öffentlichkeit vergisst nicht, dass Sport und Menschenrechte zusammen gedacht gehören", sagt Ellen Wesemüller von Amnesty im watson-Gespräch.