Jedes Fußball-Turnier hat seine eigenen Gesetzmäßigkeiten. An dem sportlichen Verlauf und der Spielweise der deutschen Nationalmannschaft, so lautet eine geläufige These, könne man sogar den Gemütszustand des Landes ablesen.
Das Wunder von Bern, der WM-Titel 1954, deckt sich mit dem Wirtschaftswunder, die Wiedervereinigung mit dem WM-Pokal 1990. 2024 sieht es zumindest so aus, als würde die Nationalmannschaft trotz Viertelfinalaus dem existenziell verschnupften Deutschland wieder auf die Beine helfen.
Ohnehin hat diese Europameisterschaft im Vergleich zu den vergangenen Turnieren einiges an Abwechslung zu bieten. Gleichzeitig aber auch empfindlich offengelegt, was, nun ja, ausbaufähig ist. Wir sind beim Zählen auf sieben Dinge gekommen, die in jedem Fall anders sind.
Eine Besonderheit lässt sich schon an Ski Aggus Song "Junge Baller" ablesen. Darin heißt es, in Gedanken an die eigene Fußballsozialisation schwelgend: "2014, Autokorso, übern Ku'damm fahr'n. Im Club 2'21 flieg' ich raus wie deutsche Fußballstars."
Die Weltmeisterschaften 2018 und 2022, in Russland und Katar, bleiben unerwähnt und streng genommen war auch das Kontinentalturnier 2021 eine Anomalie, eine vier Wochen lange Pause, mit nervös angezogener Handbremse, umklammert von der Corona-Pandemie.
Nun also, im Jahr 2024, findet in Deutschland endlich wieder ein Fußballturnier statt, unter besten Rahmenbedingungen, in einem demokratischen Land mit langjähriger Fußballkultur. Und: It shows.
Ob Schottland, Niederlande, die Türkei oder Österreich – die Fans sind zurück und versetzen deutsche Großstädte in Ausnahmezustände. Was bei den vergangenen Turnieren fehlte, letztlich die elementarste Kraft des Sports, erstreckt sich über die Straßen: Wildfremde Menschen liegen sich zu Zehntausenden in den Armen und feiern ihre Mannschaft, sich selbst, den Fußball.
Flankiert werden sie dabei von einer Reihe musikalischer Begleiterscheinungen. Andre Schnura streift sich sein Rudi-Völler-Trikot über, steckt sich eine Zigarette hinters Ohr und heizt die Fanzonen dieser Nation mit seinem mattschwarzen Saxofon ein, die Niederländer:innen schwanken von links nach rechts, von rechts nach links, und Spanien hat einen eigenen Trompetisten, der vereinzelt in die Fernsehübertragung trötet.
Wir wollen hier aber auch nicht allzu euphoriebesoffen durchtorkeln, es gibt ja schließlich auch noch den Anlass dieser ganzen Veranstaltung: die Spiele. Und dort dominiert vor allem ein Akteur. Das Eigentor. Schon neun Bälle wurden von Spielern ins eigene Netz bugsiert, der Trend ist in den vergangenen Jahren steigend. Es wird bereits darüber gescherzt, dass sich Chelsea-Besitzer Todd Boehly bereit mache, 80 Millionen Euro für einen Herrn "Eigentor" auszugeben.
Als mögliche Ursachen werden die Schnelligkeit des Spiels und eine dichtere Strafraumbesetzung angeführt, auch sei der Ball leichter geworden und es würden häufiger Flanken hart und flach in den Strafraum gespielt. All das mache Eigentore wahrscheinlicher.
Ebenfalls auffallend: die Flut an Fernschusstreffern. Das dürfte sich dadurch erklären, dass sich Mannschaften häufig tief in die eigene Hälfte zurückziehen, was bedeutet, dass zum einen kein Druck auf den ballführenden Spieler ausgeübt wird und zum anderen das angreifende Team schlicht weniger Optionen im Passspiel hat. Also schießen.
Zuletzt werden auch deutlich mehr Gelbe Karten verteilt als in den vergangenen Jahren. In den ersten 36 Partien wurden 166 Verwarnungen ausgesprochen – durchschnittlich 4,6 Gelbe Karten pro Partie. Beim Spiel Tschechiens gegen die Türkei wurden sogar 18 Gelbe und zwei Rote Karten verteilt, bei der Partie England – Slowakei drei Gelbe nach 17 Minuten. Beides EM-Rekord.
Drei Minuten und zwei Spielsituationen, in deren Mittelpunkt Joachim Andersen stand. Auf der einen Seite erzielte er das Tor gegen Deutschland, das zurückgenommen wurde, weil die Fußspitze von Thomas Delaney über die Abseitslinie ragte. Auf der anderen Seite klatschte eine Flanke von David Raum an seinen Unterarm. Elfmeter, 0:1 statt 1:0.
Beide Situationen wurden vom menschlichen Auge nicht erkannt, die Schiedsrichter werden bei dieser EM zusätzlich von einer halb automatischen Abseitserkennung unterstützt, ein Chip im Ball kann zusätzlich dabei helfen, seismische Ausschläge bei einem Handspiel zu erkennen. Die selbst gegebenen Regeln können dadurch so gut wie noch nie kontrolliert werden. Nur war das nie im Sinne der Erfinder.
Die Handregel ist dazu da, dass man nicht mit dem Ball in der Hand ins gegnerische Tor stürmen darf und Abseits soll verhindern, dass Spieler permanent vor dem Tor lauern. Es ging im Ursprung nicht darum, Aktionen nachzuweisen, die im reellen Spielgeschehen in aller Regel kaum einen nennenswerten Vorteil bedeuten, der die drakonischste Strafe, das Zurücknehmen eines Tores, rechtfertigen würde.
Die Diskussionen über den assistierenden Videoschiedsrichter gibt es so lange wie den VAR selbst. Nur scheint nach den jüngsten Entscheidungen bei der EM ein neuralgischer Punkt erreicht zu sein.
Spricht man mit internationalen Journalist:innen, die die EM begleiten, hört man häufig Ähnliches. Die Offenheit sei bemerkenswert, die Deutschen freundlich, aber reserviert, die Euphorie begeisternd. Wenn da nicht die Deutsche Bahn und die teils katastrophale Organisation wäre.
Österreichische Fans sind in Passau gestrandet und haben den größten Teil der Partie gegen Frankreich verpasst, in München und Dortmund gab es chaotische Zustände auf dem Weg zum Bahnhof und darüber hinaus. Auch einige Polizist:innen und Sicherheitsleute beschwerten sich über die teils chaotischen Zustände. Das ist sicherlich auch der Uefa selbst geschuldet, aber vor allem der maroden Infrastruktur Deutschlands.
Ist überwiegend und auffallend schlecht. Aus dem erhofften Sommermärchen wurde spätestens an einem späten Abend in Dortmund das Donnermärchen.
"Where the fuck is Gelsenkirchen?", fragten sich bereits etliche internationale Fans, als Taylor Swift die Standorte ihrer Europa-Tour im vergangenen Jahr bekannt gegeben hat. Spätestens jetzt hat sie es zur weltweiten Bekanntheit geschafft: die ärmste Stadt Deutschlands.
Selbst die britische "Times" schrieb über den Ruhrpott, englische Fans diffamierten die Stadt als "Drecksloch". Es gebe hier "nicht viel zu tun und zu unternehmen", außerdem könne man nicht einmal mit Karte zahlen. Ein Sky-Moderator warnte seine Landsleute sogar vor einem Besuch der Stadt. Was doch recht erstaunlich ist, wenn Städte wie Manchester auf dem eigenen Staatsgebiet liegen.
Den Auftakt machten die albanischen Fans, die vor kniend flehenden Italienern eine Todsünde begangen und Spaghetti in der Mitte zerbrachen. Von da an verbreitete sich der Trend, der unter den "Food-Wars" in die EM-Annalen eingehen wird, wie ein Lauffeuer. Wenig später zerbrachen Österreicher vor den Augen französischer Anhänger ein Baguette. Schließlich waren überall Plakate zu sehen, die die landestypische Kost höher bewerteten als die des Gegners.
In jedem Fall kann man sich sicher sein: Diese Europameisterschaft wird, im Schlechten, vor allem aber im Guten, in Erinnerung bleiben.