Thomas Müller grüßte mit einem Bild vor dem Fernseher aus dem Quarantäne-Trainingslager in Grassau. Mats Hummels postete sofort ein Bild in der Nationalmannschaftsjacke. Die vor zwei Jahren aussortierten Weltmeister reagierten mit viel Vorfreude und ohne zur Schau gestellte Genugtuung auf die Rolle rückwärts von Joachim Löw. Gemeinsam mit den 24 weiteren EM-Fahrern inklusive der Kader-Überraschungen Kevin Volland und Christian Günter wollen sie dem scheidenden Bundestrainer einen goldenen Abschied bescheren. "Die Chance, den EM-Titel zu holen, reizt mich sehr", sagte Müller.
"Wir haben gesagt, dass wir alles nochmals auf den Kopf stellen, jeden Stein umdrehen, um die bestmöglichen Entscheidungen zu treffen und alles dem Erfolg unterzuordnen", sagte Löw bei seiner Live-Präsentation aus Frankfurt/Main. "Einen Umbruch komplett abzubrechen, macht keinen Sinn. Aber man kann ihn mal unterbrechen", betonte der 61-Jährige.
Profi-Trainer und Taktik-Experte Peter Hyballa ist begeistert von Löws Auswahl an Spielern. "Wir haben einen super Kader, mit einer richtigen Mischung aus jungen und alten Spielern", sagt der 45-Jährige gegenüber watson.
In Hyballas Augen ist es sogar ein großer Vorteil, dass die EM aufgrund der Corona-Pandemie um ein Jahr nach hinten geschoben wurde. "Spieler wie Kai Havertz, Leroy Sané oder Robin Gosens haben sich in diesem einen Jahr nochmal weiterentwickelt. Das ist richtig gut."
Nach dem WM-Debakel 2018 und den peinlichen Pleiten in Spanien (0:6) und gegen Nordmazedonien (1:2) ist eine erfolgreiche EM dringend notwendig. Das Turnier stehe "über allem", sagte Löw. "Ein erfolgreiches Turnier ist für den deutschen Fußball, für die gesamte Nation, extrem wichtig."
Damit das klappt, holte er eben auch Müller und Hummels zurück, die er zuvor Anfang 2019 aus dem DFB-Team warf, um nach dem Vorrunden-Aus bei der WM 2018 einen Neuanfang zu starten. Eine Idee, die Trainer-Experte Hyballa verstehen kann. "Manchmal willst du als Trainer auch mal was Neues probieren. Und verändern ohne eine Veränderung klappt auch nicht."
Doch aufgrund ihrer guten Leistungen in der vergangenen Saison nominierte Löw sie für die Endrunde. "Uns haben in einigen Spielen Stabilität und Erfahrung gefehlt. Müller und Hummels haben eine sehr starke Saison gespielt, sie können führen", schilderte Löw seine Erwartungen an die beiden Routiniers.
"Gerade Müller war schon immer gut, aber jetzt zeigt er eine noch höhere Effektivität. Vielleicht war so eine Pause für ihn auch mal ganz gut", spekuliert Taktik-Experte Peter Hyballa.
Eine Pause nimmt sich dafür Marco Reus. Der zuletzt formstarke, aber im Laufe der Saison häufig von Verletzungen geplagte Angreifer wird nicht für das DFB-Team auflaufen. In einem Instagram-Post am Dienstag erklärte er bereits: "Nach einer komplizierten, kräftezehrenden und am Ende 'Gott sei Dank' erfolgreichen Saison habe ich gemeinsam mit dem Bundestrainer beschlossen, nicht mit zur EM zu fahren." Und auch Löw erzählte: "Er hat mir offen gesagt, dass er sich jetzt erholen muss."
Trainer-Fachmann Hyballa findet die Reus-Absage schade, denn er hätte in der Schlussphase durchaus ein Unterschiedsspieler werden können. "Marco ist ein starker Dribbler. Er hätte in der 70. Minute eingewechselt werden können und dann mit seinen Bewegungen Räume in der Offensive geschafft, weil er am Ball besser ist als andere."
Stattdessen nominierte der Bundestrainer in der Offensive Kevin Volland, der 2014 debütierte und seitdem nicht von Löw berücksichtigt wurde. In der aktuellen Saison erzielte er 16 Tore für die AS Monaco in der französischen Ligue 1. "Auch er hat sich enorm weiterentwickelt, und eine Erfahrung im Ausland macht dich immer noch ein Stück selbstbewusster." Daher erklärt Hyballa: "Seine Nominierung ist also auch nicht total verrückt."
Im Vergleich zu den anderen potenziellen Mittelstürmern wie Timo Werner oder Kai Havertz bringe Volland laut des Trainer-Experten nochmal eine ganz neue Komponente in das Angriffsspiel des DFB-Teams. "Er ist ein Power-Spieler, der eine gewisse Wucht hat und sich in jeden Zweikampf wirft. Gleichzeitig bringt er aber auch unheimlich viel Dynamik mit."
Volland war "extrem glücklich und dankbar", und auch die zweite überraschende Nominierung mit Freiburgs Günter bedankte sich ungläubig bei "Herrn Löw". Davon träume jedes Kind.
Für Träumereien bleibt aber nicht viel Zeit, am 28. Mai startet das Trainingslager in Seefeld/Tirol. Dabei wird auch Youngster Jamal Musiala (18 Jahre) sein. Das zweite deutsche Super-Talent mit Florian Wirtz (18) wird ebenso wenig zur EM fahren wie Julian Brandt, Jonathan Tah, Amin Younes und durchaus überraschend Rio-Weltmeister Julian Draxler.
Wirtz wird dafür im Sommer bei der U-21-Europameisterschaft auflaufen. "So eine U-21-EM ist ja auch da, damit die Spieler Schritt für Schritt gehen. Ich finde es ganz gut, dass Florian Wirtz einen Zwischenschritt macht, denn man muss nicht in den absoluten Jugendwahn verfallen", erklärt Peter Hyballa und fügt hinzu: "Für mich ist es schon eine Überraschung, dass Jamal Musiala dabei ist." Gleichzeitig sei es aber auch ein gutes Zeichen für alle deutschen Talente, dass der Sprung ins DFB-Team möglich ist.
Nach den Testspielen gegen Dänemark (2. Juni/Innsbruck) und Lettland (7. Juni/Düsseldorf) startet der dreimalige Europameister am 15. Juni gegen Weltmeister Frankreich ins Turnier. Weitere Vorrundengegner in München sind Titelverteidiger Portugal (19.) und Ungarn (23.).