15 positive Corona-Fälle musste Handball-Bundestrainer Alfreð Gíslason während der Europameisterschaft unter seinen Spielern hinnehmen. Zum Vergleich: 19 Akteure hatte Gíslason vor Turnierbeginn nominiert. Aufgrund der Fälle kamen immer wieder neue Spieler nach Bratislava nach.
Dennoch ziehen die meisten Akteure ein positives Fazit zum Abschneiden des DHB-Teams. Mit dem 30:29-Sieg über Russland landete die Mannschaft um Kapitän Johannes Golla am Ende in ihrer Hauptrundengruppe auf Rang vier. Golla selbst bewertet das Turnier so: "Es hat sich ein toller Teamgeist entwickelt. Das wird uns auch in Zukunft zusammenschweißen." Natürlich wünsche er sich aber auch Turniere "gerne mit sportlichen Erfolgen".
Es hing wohl auch an den Corona-Fällen, dass der Erfolg ausblieb. Vor Turnierbeginn hatte Bundestrainer Gíslason aber schon die Erwartungen gedämpft und Deutschland nicht als Favoriten gesehen. Ein Grund dafür war auch, dass Leistungsträger aus den letzten Jahren wie Fabian Wiede oder Hendrik Pekeler für das Turnier abgesagt hatten – aus Vorsicht vor dem Corona-Virus. Daran hatte unter anderem der ehemalige Bundestrainer Heiner Brand Kritik geübt.
Marcus Rominger nimmt in dieser Diskussion allerdings einen anderen Standpunkt ein. Der ehemalige Bundesliga-Spieler hat zusammen mit Nationaltorhüter Johannes Bitter 2010 die "Gemeinschaftliche Organisation für alle Lizenzhandballer in Deutschland" (GOAL) gegründet und vertritt die Interessen der Profis. Er verteidigt Spieler, die aus Bedenken vor der Pandemie nicht zur Europameisterschaft fahren wollten und erklärt gegenüber watson:
Wiede wurde nach einigen Corona-Fällen nachnominiert und kam letztlich doch zur Unterstützung des DHB-Teams nach Bratislava. Hendrik Pekeler nicht. Aber auch hier findet Rominger Verständnis: "Er hat drei Kinder zuhause und hat sie wahrscheinlich im ersten Halbjahr 2021 vermutlich die Hälfte nicht gesehen, weil er bei jedem Event dabei war." Im vergangenen Jahr fand neben der Handball EM noch die Olympia-Qualifikation statt, außerdem hat er mit THW Kiel in der Bundesliga und der Champions League gespielt und im Sommer dann noch an den Olympischen Spielen teilgenommen.
"Wir Handballer können nach der Karriere nicht von den Einnahmen leben. Wir müssen noch etwas anderes machen, nebenbei studieren und uns auf das Leben nach der Karriere vorbereiten. Deshalb ist es völlig legitim, wenn mal gesagt wird, dass in der Corona-Pandemie die Familie Vorrang hat", findet Rominger.
Sportlich seien die Absagen "für die Nationalmannschaft schade". Der 49-Jährige sieht aber auch das Positive: "Es bietet ja auch Chancen. Ein Julian Köster wäre vielleicht niemals mitgefahren, wenn alle anderen zugesagt hätten." Mit insgesamt neun Debütanten ging das DHB-Team ins Turnier. Die neuen, jungen Spieler sieht er als Ausgangspunkt für neuen Enthusiasmus, den er dem Team angesehen habe. "Man hat sich gegenseitig geholfen. Das hatte man vorher in den ein bis zwei Jahren nicht in dieser Endkonsequenz erlebt. Die Spieler haben nie aufgegeben, egal in welcher Situation sie waren."
Dabei gab es durchaus knifflige Situationen. Beispielsweise, als vor dem Hauptrundenbeginn sogar ein Rückzug aus dem Turnier der deutschen Mannschaft diskutiert wurde, weil es zu viele Corona-Fälle gab.
Zu den Überlegungen eines Rückzugs hatte sich Martin Hausleitner, Generalsekretär des Europäischen Handballverbands (EHF) geäußert. Demnach hätte ein Ausscheiden aus dem Turnier "nach unserem Rechtssystem eine Sperre der Nation bedeutet, also keine Teilnahme an einer WM-Qualifikation und schwierige Umstände hinsichtlich der EM 2024." Ausgerechnet die Europameisterschaft in zwei Jahren findet aber in Deutschland statt.
In Romingers Augen sei diese Aussage "sehr von oben herab" gewesen. Die EHF Habe "durch eine Drohkulisse hinsichtlich der Heim-EM2024 Druck aufgebaut." Dabei sei auch der europäische Verband daran beteiligt gewesen, dass das DHB-Team so viele Corona-Fälle verzeichnen musste.
Rominger kritisiert die angekündigte Blase, also den Lebensraum in der sich ausschließlich die Sportler aufhalten, damit sie sich keine Infektion von außerhalb einfangen. "In Ägypten (bei der WM, d. Red.) wurde im vergangenen Jahr eine Bubble aufgebaut, die zu 90 Prozent funktioniert hat. Natürlich gab es Omikron da noch nicht. Aber wenn man sich Bratislava oder im Speziellen die Zustände in Budapest anschaut, hatte es da nichts mit einer Blase zu tun. Da muss die Frage erlaubt sein, ob alle Vorsichtsmaßnahmen vorher von der EHF getroffen worden sind."
Nach den ersten Corona-Fällen rüstete der deutsche Handballverband selbstständig die Sicherheitsvorkehrungen auf, weil das Konzept der EHF offensichtlich nicht aufging. Fortan fielen sogar gemeinsame Trainings aus und das Essen wurde den Spielern auf die Zimmer gebracht. Genau so etwas dürfe aber laut Rominger nicht passieren. "Dieses Drumherum ist enorm wichtig, um eine Mannschaft für ein Turnier zu formen."
Trotz der schlechten Vorkehrungen der EHF ist Rominger aber generell der Meinung, dass es akzeptabel gewesen sei, die Europameisterschaft zu spielen. "Ich hoffe, dass die infizierten Spieler keine Langzeitfolgen davontragen. Sollten welche auftreten, müsste man das Turnier nachträglich neu bewerten."
Hinsichtlich der Zukunft des deutschen Handballs mache sich Rominger keine Gedanken. Mit Johannes Golla habe man genau den richtigen Kapitän. Dazu käme, dass Bundestrainer Gíslason "jetzt auch schon junges Personal in einer Drucksituation testen" konnte. Auch für die Heim-Europameisterschaft in zwei Jahre könnte das gut sein.
Dennoch gebe es einige Dinge, die sich im DHB-Team noch verbessern müssten. "Hinsichtlich der Heim-EM muss es den Schritt nach vorne geben und man muss weniger Fehler machen, den Gegner zu Fehlern zwingen und eigene Stärken ausspielen." Dann könnte das DHB-Team auch sportlich wieder erfolgreich sein und dadurch den Wunsch von Kapitän Johannes Golla erfüllen.