Der beste Fahrer im schnellsten Auto nützt nichts, wenn die Strategie nicht stimmt. Das gilt in der Formel 1 wie in kaum einer anderen Rennserie. Denn mindestens ein Mal müssen die Piloten während des Rennens Reifen wechseln – und wer dann zu früh oder zu spät zum Boxenstopp kommt, kann sich den Sieg meist abschminken.
Womöglich hat nämlich ein Konkurrent eher reagiert und auf frischen Reifen viel Zeit gut gemacht. Oder ein Rivale hat einen Wetterumschwung antizipiert und Regenreifen geholt, während alle anderen noch auf normalen Gummis über die Strecke schlittern. Wenn sich der Rennverlauf ändert, müssen die Teams innerhalb kürzester Zeit reagieren. In der Königsklasse des Motorsports entscheiden schließlich oft Sekunden, gar Millisekunden, über Triumph oder Tragödie.
Um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein – sei es nun ein Rennunfall, ein früherer Boxenstopp der Konkurrenz oder plötzlich einsetzender Regen – simulieren die Teams mitunter "Milliarden denkbare Rennszenarien", berichtet Florian Fiedler. Der Deutsche arbeitet für den Rennstall Alfa Romeo Racing und ist einer der wenigen Menschen auf der Welt, die sich "Formel-1-Strategie-Ingenieur" nennen dürfen.
watson: Herr Fiedler, wie wird man eigentlich Strategie-Ingenieur in der Formel 1?
Florian Fiedler: Es gibt nicht den einen Weg. Man braucht aber eine wissenschaftliche Ausbildung, um ein guter Datenanalyst zu sein. Programmierkenntnisse sowie ein allgemeines Verständnis der Fahrzeugabstimmung und des Reifenverhaltens sind auch hilfreich, genauso wie die Fähigkeit, in extrem stressigen Situationen ruhig und konzentriert zu bleiben.
Und wie genau sah Ihr weg aus?
Ich persönlich habe Maschinenbau studiert und während meiner Zeit bei der Formula Student – das ist so etwas wie die Formel 1, aber nur für Hochschulen – in Dresden die Grundlagen des Motorsports gelernt. Die Erfahrungen in meinem Formula Student Team, Elbflorace, haben mich bestens auf die Formel 1 vorbereitet.
Was machen Sie persönlich während eines Rennens?
Ich höre den Funkverkehr der anderen Fahrer ab, verfolge die Entwicklung ihres Tempos und den Zustand ihrer Reifen und versuche vorherzusagen, was sie als Nächstes tun könnten und was das für unsere Autos bedeuten würde. Unsere Simulationstools verfolgen das Rennen live und berechnen ständig die für uns besten Optionen. Um das zu optimieren, halte ich alle Parameter ständig auf dem neuesten Stand.
Und behalten die Infos für sich?
Nein. Im Strategieteam sprechen wir immer darüber, wie wir auf alle denkbaren Ereignisse reagieren können, vom Boxenstopp eines Konkurrenten bis hin zum Rennabbruch – um sicherzustellen, dass wir immer eine Lösung parat haben.
Wie viele Szenarien bereitet das Strategieteam von Alfa Romeo vor einem Rennen vor?
Wir simulieren ein paar Milliarden Rennen, um unsere Ideen gegen alle Szenarien zu testen – von unterschiedlichem Reifenverhalten bis hin zu Rennunterbrechungen wie Safety Cars. Die Trends, die wir dort sehen, fassen wir dann zu mehr als einem Dutzend Szenarien zusammen, auf die wir das Team und die Fahrer konkret vorbereiten. Dabei konzentrieren wir uns auf die wenigen wahrscheinlichsten.
Wie viele Personen planen die Rennstrategie und wer hat das letzte Wort?
Das Strategieteam bei Alfa Romeo besteht aus drei Personen. Wir entwerfen mögliche Rennverläufe und besprechen sie dann mit den Personen, die direkt daran beteiligt sind, also mit den Fahrern und den Renningenieuren, aber auch mit dem leitenden Ingenieur an der Strecke sowie unserem Teamchef.
Aber dann muss es immer noch der Fahrer im Auto umsetzen?
Genau. Entscheidungen werden zwar immer im Team getroffen, aber ich denke, letztlich haben die Fahrer das letzte Wort, denn sie sind diejenigen, die im Auto sitzen – entweder sie kommen zum Reifenwechsel in die Boxengasse oder nicht.
Welchen Einfluss haben die Fahrer darüber hinaus auf die Rennstrategie?
Einen großen. Wir schlagen bestimmte Szenarien vor, wie wir das Rennen angehen wollen, aber kein Plan würde jemals ohne die Zustimmung des Fahrers funktionieren. Außerdem passen wir ein Rennen gerne an die Fähigkeiten unserer Fahrer an.
Was heißt das konkret?
Wenn ein Fahrer außergewöhnlich gut überholen kann, könnte man sich für eine aggressivere Strategie entscheiden und zum Beispiel zweimal Reifen wechseln. Wenn der Fahrer sehr gut darin ist, die Reifen weniger stark zu verschleißen, können wir einen früheren Boxenstopp als die Konkurrenz einplanen und auf diese Weise Plätze gewinnen.
Was gefällt Ihnen an Ihrem Beruf am besten?
Wie direkt ich in das Rennen involviert bin. Als Stratege hat man einen ziemlich großen Einfluss auf den Ausgang eines Rennens – sowohl im positiven als auch im negativen Sinne. Die Spanne zwischen dem einen und dem anderen ist oft winzig, aber ich spiele gerne mit hohen Einsätzen. Ein Formel-1-Rennen ist fast wie ein Schachspiel, nur in sechs Dimensionen.
Es macht großen Spaß, einen Schachzug gegen einen Gegner zu planen, ihn durchzuziehen und dann zu erleben, dass der Fahrer oder sein Stratege später zu einem kommt und sagt: "Das habe ich nicht kommen sehen".
Mit Mick Schumacher und Sebastian Vettel ist Deutschland in der Formel 1 aktuell prominent vertreten. Wie sehr fiebern Sie mit den deutschen Fahrern mit?
Ich verfolge sie in gleichem Maße wie alle anderen Fahrer in der Startaufstellung – es gibt keine Voreingenommenheit aufgrund meiner eigenen Nationalität. In diesem Jahr werde ich Mick Schumacher wohl viel genauer verfolgen, da er sich zu einem unserer Hauptkonkurrenten entwickelt.
Generell sind meine Lieblingsfahrer diejenigen, die den Sport mit Humor und Bescheidenheit betrachten und die Rennen fair und ruhig fahren. Und natürlich schnell. Die aktuellen deutschen Fahrer repräsentieren das sehr gut, denke ich.