2016 gewann die Handball-Nationalmannschaft den EM-Titel – und 17 Millionen Fernsehzuschauer in Deutschland waren live dabei. Doch es wäre nicht ein deutsches Erfolgserlebnis, wenn nicht ein Miesepeter reingrätschen würde. Der Philosoph Wolfram Eilenberger stellte in seiner Kolumne „Handball: Die Alternative für Deutschland“ bei Zeit Online den Handball als rein deutsche Provinzbespaßung dar.
„Die Handballer waren tief getroffen, weil sie in eine Richtung gerückt wurden, die sie gar nicht auf dem Schirm hatten,“ sagt Prof. Dr. Klaus Cachay, Ex-Handballer und Sportsoziologe an der Uni Bielefeld. „Es gibt bei ihnen keine Bösartigkeit. Aber sie haben dem empirischen Tatbestand schnell zugestimmt.“
Und der ist auch bei dieser WM evident. Spieler mit den Namen Uwe, Finn und Andreas zogen vor zehn Millionen TV-Zuschauern am Montag ins Halbfinale ein. In der Nationalmannschaft gibt es nur einen Spieler mit Einwanderungsbiografie: Der nachnominierte Deutsch-Kroate Tim Suton. In der Breite sieht es nicht viel besser aus. Ähnlich bei der Frauen-Nationalmannschaft, nur Xenia Smits (Belgien) und Shenia Minevskaja (Weißrussland) haben eine andere Herkunft.
Gründe sind schnell gefunden: Handball wird meist in kleineren Städten ohne großen Migrationsanteil gespielt, er ist kein "Straßensport", sondern wird im Verein in der Halle gespielt. Außerdem gibt es bei vielen großen Migrantengruppen wie den Türken, Griechen oder Italienern keine Handball-Tradition.
Die Frage ist, ob dies als Problem überhaupt wahrgenommen wird. In vielen Kommentarspalten liest sich das so: Wenn die Ausländer keinen Handball spielen wollen, dann müssen sie nicht. Man sei ja auch ohne sie Europameister geworden.
Das Problem ist aber dennoch akut: Immer mehr Wettkampfmannschaften werden im Handball abgemeldet, weil Geld und der Nachwuchs fehlen. Selbst der konservative DFB erkannte nach Jahren des Mittelmaßes das Potenzial in ausländischen Jugendlichen und bemühte sich gezielt um sie.
Integration aus Opportunität. Aber besser als gar nichts.
Der sehr deutsche Handball ist für Cachay aber nur ein Indikator für eine Gesellschaft, die gerade einige integrationspolitische Probleme hat.
Gemeinsam mit Prof. Dr. Carmen Borggrefe von der Universität Stuttgart suchten sie nach Ursachen für die fehlende Diversität im Handball und präsentierten sie in der Studie "Weltmeister werden mit Euch! Eine Studie zum Problem der Unterrepräsentanz von Migrantinnen und Migranten im Handball". Sie erklärten uns, warum das Fehlen eines Migrationshintergrunds die Existenz des deutschen Handballs bedroht.
watson: Was sind die größten Faktoren, dass ausländische Jugendliche nicht zum Handball kommen?
Prof. Dr. Carmen Borggrefe: Wir haben geschaut, ob es Barrieren auf der Seite der Vereine und auf der Seite der Personen mit Migrationshintergrund gibt. Wenn sie die Kommunikationsmittel der Vereine ansehen, die Homepages oder die Social-Media-Kanäle, dann sieht man lauter blonde Kinder, die dort abgebildet sind. Dazu gibt es das Problem, dass Handball in geschlossenen Hallen stattfindet.
Und auf der Seite der Jugendlichen mit Migrationshintergrund?
Borggrefe: Auf der anderen Seite wird gerne angenommen, dass das Interesse am Sport auch durch das Heimatland bestimmt wird. Das Argument 'In der Türkei spielt man keinen Handball, deswegen spielen die hier lebenden Türkeistämmigen auch keinen Handball' ist etwas zu einfach.
Aber auch nicht ganz falsch, oder?
Borggrefe: Natürlich muss man sagen, dass die familiäre Konstellation wirkt. Welchen Sport schaut man gemeinsam im TV? Worüber spricht man im Freundeskreis? In den Köpfen von Menschen mit Migrationshintergrund ist Handball als deutsche Sportart konstruiert. Da stellt sich die Frage: Kann ich dort hingehen, oder verliere ich die Zugehörigkeit zu meiner eigenen Community?
Was ist denn so deutsch für die ausländischen Jugendlichen am Handball?
Borggrefe: Da werden viele Begriffe zu Rate gezogen: Authentisch, Körperlichkeit, Härte, Respekt, Disziplin. Es wird mit deutschen Tugenden gleichgesetzt. Übrigens von beiden Seiten, von den Handball-Spielern als auch von den Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Kann man dahin gehen und dann noch gleichzeitig in seiner Community verankert sein?
Prof. Dr. Klaus Cachay: Wichtig ist auch, dass dieses Mindset zutiefst verankert ist. Da kann auch kaum noch in Worten erklärt werden: „Das und das ist mir zu deutsch“. Und auf der Seite der Autochthonen ist es auch ganz klar: Die wollen doch gar nicht.
Borggrefe: So stellt sich aber auch der Handball selber dar. Die Handball-Bundesliga hat die Kampagne „Es lebe der Sport“ gefahren, in der Fußballer als Schauspieler dargestellt werden und der Handball authentisch und körperlich.
Das soll die Selbstwahrnehmung der Handballer treffen, wirkt aber nach außen hin auch ausschließend.
Liegt es vielleicht auch am Rückgang der Vereinskultur in Deutschland? Wollen sich die Leute überhaupt noch an Vereine binden?
Borggrefe: Einen generellen Rückgang, was die Kinder- und Jugend-Zahlen angeht, haben wir nicht. Doch der Vergleich zum Fußball ist frappierend. Bei Unter-14-jährigen Türkischstämmigen gibt es einen Organisationsgrad von 80 Prozent, was die autochthone Bevölkerung um Längen übersteigt. Die sind noch stärker im Sportverein vertreten, nur eben nicht beim Handball oder Volleyball, sondern beim Fußball und beim Kampfsport.
Man grenzt sich also parallel zueinander ab?
Cachay: Wir haben viele Interviews an den Schulen geführt und etwas sehr interessantes festgestellt: Außerhalb der Schule sind die Kontakte zwischen Autochthonen und Menschen mit Migrationshintergrund sehr gering. Man bleibt unter sich. Das ist integrationspolitisch ein ganz bedeutsames Phänomen. Denn Integration läuft über die Mischung von Freundeskreisen.
Zurück zum Handball: Wäre eine Möglichkeit, den Sport bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund populärer zu machen, ihn mehr in der Schule zu unterrichten?
Cachay: Handball spielt in den Lehrplänen leider so gut wie keine Rolle.
Borggrefe: Wir erleben es kaum, dass Jugendliche über den Sportunterricht zum Handball-Verein kommen. Wenn überhaupt Handball unterrichtet wird, dann in der 8. bis 10. Klasse, wenn niemand mehr mit Handball im Verein anfängt.
Warum wird denn Handball nicht im Sport unterrichtet?
Borggrefe: Das liegt an der Sportart selber, an den spezifischen Regeln, an den räumlichen Herausforderungen, am Körperkontakt und daran, dass die Lehrer nicht gut genug für die Sportart ausgebildet sind.
Cachay: Wir empfehlen, es über die AGs in der Schule zu versuchen. Man sollte die Vereine der ersten und zweiten Bundesliga verpflichten, solche aufzubauen.
Wie reagierte denn der Handball-Verband auf ihre Ergebnisse?
Borggrefe: Eine Reaktion ist, dass der Verband im Vorstand eine Position für Mitgliederentwicklung geschaffen hat. Die Wertigkeit hat in den vergangenen zwei Jahren zugenommen.
Was man noch nicht hat, sind konkrete Maßnahmen. Wir sind auch beim Verband dabei, und werden Veranstaltungen erproben, wie man dieses Thema in die Vereine bekommt. Ganz wichtig ist aus unserer Sicht: Man darf das Thema nicht als „interkulturelle Öffnung“ oder ähnliches benennen, weil sie dann gar keinen bekommen. „Talentgewinnung“ funktioniert da viel besser.
Warum nicht?
Borggrefe: Weil das kein Problem ist, das einen Sportverein erst mal beschäftigt. Handballvereine müssen sich um Ehrenamtliche bemühen, um Schiedsrichter, sie müssen überhaupt zusehen, dass sie den Spielbetrieb sichern. Wenn wir Vereinen das Problem erläutern, dann sagen die erst mal: Ok, stimmt. Aber es passiert nichts. Wir müssen es funktional anbinden und fragen: Wie gestaltet man Kooperationen mit Schulen?
Cachay: Man darf sich nicht täuschen lassen. Deutschland kann jetzt Weltmeister werden, das Problem bleibt aber. Die Zahl der Wettkampfmannschaften bricht gerade in einer ungeheuren Prozentzahl weg, weil immer weniger Handball spielen. Wenn zum Beispiel an meinem Forschungsstandort Bielefeld zwischen den 0- und 18-Jährigen 56 Prozent Migrationshintergrund haben, dann muss der Handball anfangen, systematisch an sie heranzutreten.
Die Skandinavier, auch große Handball-Nationen mit hohem Migrationsanteil, haben ein ähnliches Problem wie wir. Dafür spielen die Franzosen mit gut zwei Dritteln Migranten und dominieren den Handball seit Jahren. Was haben die anders gemacht?
Cachay: Das liegt an einem langjährigen Prozess in der französischen Gesellschaft. Nicht, dass die nicht auch Probleme hätten, doch die Franzosen haben die Integration in ihren Sportmannschaften sehr viel früher begonnen.
Borggrefe: Wir haben keine aktuellen empirischen Daten. Es gibt Untersuchungen aus den Neunzigern, die zeigen, dass die Spitzensportler eine ganz andere Sozialstruktur haben. In Deutschland sind unter den Spitzensportlern viele Akademiker und Abiturienten und in Frankreich sind viele aus den Banlieues. In Frankreich ist das Sportsystem ohnehin viel zentralistischer organisiert. Wahrscheinlich werden darüber die Talente besser gefunden und gefördert.