Zum Ende dieser Saison kehrt mit Sebastian Vettel eine Formel-1-Legende der schnellsten Rennserie der Welt den Rücken. Mit vier Weltmeistertiteln und 53 Rennsiegen geht Vettel als dritterfolgreichster Fahrer aller Zeiten von der Motorsport-Bühne.
Einer, der seinen Weg von Anfang an begleitet hat, ist Formel-1-Reporter Michael Schmidt. Seit 1981 berichtet er über die Formel 1, war bei über 600 Rennen an der Strecke. Watson hat mit Schmidt über die Auswirkungen von Vettels Rücktritt gesprochen, über dessen Klimaengagement und über das komplizierte Verhältnis der Deutschen zu ihrem aktuell größten Rennfahrer.
watson: Vor ein paar Wochen hat Sebastian Vettel seinen Rücktritt auf einem eigens dafür eingerichteten Instagram-Account verkündet – und das als bekennender Social-Media-Muffel. Wie sehr hat er Sie damit überrascht?
Michael Schmidt: Ich habe mich noch beim Grand Prix in Frankreich mit ihm über einen möglichen Rücktritt unterhalten. Da hatte er genauso viele Gründe, weiterzumachen, wie aufzuhören, fifty-fifty. Ich hatte erwartet, dass er sich nach der Sommerpause entscheiden wird, nicht schon beim nächsten Rennen in Ungarn.
Haben Sie eine Vermutung, weshalb er das Video ausgerechnet auf Instagram veröffentlichte?
Er muss sich eine neue Plattform schaffen. Solange er noch Formel-Fahrer ist, kann er seine gesellschaftlichen und ökologischen Anliegen gut platzieren. Wenn er dann Privatmann ist, verliert seine Stimme an Gewicht, das weiß er auch. Und um seinen Kanal zu etablieren und Follower zu kriegen, musste er natürlich mit einem Knaller loslegen. Das scheint ihm gelungen zu sein: Mit seiner Rücktrittsankündigung hat er gleich am ersten Tag rund 1,9 Millionen Follower generiert.
Wie bewerten Sie die Folgen für das Formel-1-Interesse in Deutschland, wenn mit Sebastian Vettel das Zugpferd geht?
Ich glaube, die Popularität der Formel 1 in Deutschland wird durch Vettels Rücktritt keinen großen Schaden nehmen. Viele von denen, die hierzulande zuschauen, sind einfach Formel-1-Fans und denen ist die Nationalität der Fahrer nicht ganz so wichtig. Vettel hat durch die letzten drei Jahre, in denen er nichts gewonnen hat, an Popularität verloren. Er hat zwar schon noch seine Fans, aber er war auch in seiner erfolgreichsten Zeit nie der Fahrer, der die Massen zieht, so wie einst Michael Schumacher.
Dabei boomt die Formel 1 aktuell. Im zweiten Quartal 2022 verzeichnete die Rennserie einen Umsatzanstieg von 49 Prozent im Vergleich zum Vorjahrsquartal. Wie erklären Sie sich diesen enormen Aufschwung?
Die Formel 1 war wohl nie so populär wie jetzt und das hat mehrere Gründe. Zum einen war sie der erste global agierende Sport, der nach dem Aufkommen der Corona-Pandemie 2020 zurückgekehrt ist. Das war wichtig. Die Leute hatten Zeit, um einzuschalten und haben gemerkt: "Hey, das ist ja gar nicht so übel".
Und zum anderen?
Netflix kam mit "Drive to Survive" [Hintergrundserie über die Formel 1, Anm. d. Red.] und hat die Menschen, die in diesem verrückten Zirkus unterwegs sind, einem großen Publikum nähergebracht. Viele fanden die Formel-1-Szene spannend und sind drangeblieben. Außerdem hatten wir vergangenes Jahr einen spannenden WM-Kampf zwischen Lewis Hamilton und Max Verstappen, mit Action und Kontroversen in so gut wie jedem Rennen. Das hätte man sich besser kaum ausdenken können.
Überträgt sich dieses wachsende Formel-1-Interesse auch auf Deutschland?
Deutschland ist ein bisschen das Sorgenkind der Formel 1. Der weltweite Boom ist bei uns am wenigsten angekommen. Es gibt hier schon genügend Motorsport-Fans, aber es ist traditionell auch viel Kritik unterwegs. Hierzulande herrscht eine generelle Stimmung gegen den Motorsport – und das Auto im Allgemeinen.
Das müssen Sie erklären. Ist Deutschland nicht traditionell ein Motorsportland?
Ja, wir sind Motorsportland und Autonation, trotzdem gab es – die Schumacher-Jahre mal ausgenommen – auch immer negative Strömungen. Als ich Anfang der 70er-Jahre angefangen habe, mich für die Formel 1 zu interessieren, kam es noch regelmäßig zu tödlichen Unfällen auf der Strecke. Schon da wollten viele den Sport am liebsten abschaffen, genauso wie später bei dem ganzen Wirbel um die Zigarettenwerbungen. In Deutschland haben die Kritiker immer etwas gefunden und die Öffentlichkeit ist darauf angesprungen.
Gab es diese Kritik auch bei anderen Nationen?
Das war in anderen Motorsportländern wie England, Italien oder Frankreich anders, da war die Kritik nie so laut. Deutschland hat sich schon immer schwergetan mit dem Motorsport. Man sieht es ja heute noch an den Öffentlich-Rechtlichen. Die lassen lieber die Finger vom Motorsport, weil es für sie eine schmutzige Sportart ist.
Teilen Sie diese Meinung?
Es ist eine Sportart, die man leicht kritisieren kann. Damals aus anderen Gründen als heute. Doch viele Kritiker schauen nicht weit über den Tellerrand hinaus. Die Motoren in der Formel 1 [Hybride aus Verbrenner- und Elektrokomponenten, Anm. d. Red.] sind effizienter als alles, was sonst rumfährt, vom reinen Elektromotor mal abgesehen. Und ab 2026 soll mit einem synthetischen Kraftstoff gefahren werden, der zu 100 Prozent CO2-neutral ist. Die Formel 1 will 2030 klimaneutral sein und das wird sie – als erste Sportart überhaupt – auch schaffen.
Sebastian Vettel ist der Fahrer, der sich am lautesten für Klimabelange einsetzt. In Deutschland wird er dafür als Heuchler kritisiert. Ist diese kritische Haltung ihm gegenüber womöglich auch ein deutsches Phänomen?
Ja, das ist es. Die Deutschen wollen oft päpstlicher als der Papst sein. Jetzt, wo er zurückgetreten ist, merken viele hierzulande, dass er es ernst meint. Der Vettel fuchst sich wirklich in das Thema Klimaschutz rein. Er liest viel – und da geht es nicht nur darum, wie man die Formel 1 nachhaltiger gestalten kann.
Sebastian Vettel hat einen erstaunlichen Imagewandel vollführt. In seinen Anfangsjahren bei Red Bull wurde er von vielen Fans gehasst, heute ist er einer der beliebtesten Fahrer. Wie kam es dazu?
Ich glaube, der erste Schritt war seine Zeit bei Ferrari. Da haben die Leute gemerkt, dass er Motorsportler durch und durch ist. Vettel hat den Mythos Ferrari von Anfang an begriffen. Er war ja schon immer historisch bewandert und kennt sich einfach unglaublich gut mit der Geschichte des Sports aus. Das haben die Leute ihm abgenommen. Und ich glaube, sie nehmen ihm auch seine Umweltanliegen ab und schätzen seine Konsequenz, als Rennfahrer aufzuhören, weil sich das eine mit dem anderen nicht mehr vereinbaren lässt.