
Die U21-Weltmeister von 2023: (v.l.n.r.) Renārs Uščins, Justus Fischer, Tim Freihöfer, David Späth und Nils Lichtlein. Sie prägen auch aktuell das Bild des DHB-Teams.Bild: IMAGO / wolf-sportfoto
Interview
Ein Mann, der sich selbst "Napoleon" nennt, ist streitbar. Ein Mann, der am Rande eines Handballspiels quietschbunte Pullover trägt und sich für ein Buch-Cover auf einem goldenen Thron ablichten lässt, will polarisieren. Aber ein Mann, dessen größter Antrieb die Ausbildung von jungen Talenten ist, will auch wirklich etwas verändern.
Bob Hanning ist so ein Mann. Acht Jahre war er der prominenteste Kopf im DHB-Präsidium. Mit seiner Strukturreform hat er den Handball nachhaltig geprägt. Jahre später ist er mit dem 1. VfL Potsdam, einst Team in der 3. Liga, in die Bundesliga aufgestiegen. Seit 2005 ist er Geschäftsführer der Füchse Berlin.
Seine Herzensangelegenheit dabei: die Jugendarbeit. Im watson-Interview spricht er über Deutschlands Talente, die Jugendarbeit in Berlin und Esel, die keine Rennpferde werden.
watson: Herr Hanning, warum können junge Spieler wie Renārs Uščins bei so einem Turnier wie der Handball-WM über sich hinauswachsen?
Bob Hanning: Das hat viel mit Selbstvertrauen zu tun. Und, dass man sich in einen Flow reinspielt. Renārs Uščins schafft es, das Selbstbewusstsein auf die Platte zu bringen, das Vertrauen des Trainers hat er auch.
Man darf aber nicht außer Acht lassen, dass junge Spieler wie er auch von Schwankungen betroffen sind. Den ganzen Druck sollte man ihm nicht auch noch aufbürden.
So wie man es bei Juri Knorr getan hat, meinen Sie?
Seine Leistungen waren auch mit Schwankungen verbunden. Ich finde, er hat sich da toll rausgekämpft. Das war in der Konsequenz unglaublich viel Verantwortung für so einen jungen Spieler. Sowohl er als auch die Erwartungshaltung an ihn haben letztendlich dazu geführt, dass der Plan aufgegangen ist. Eine wirkliche Entlastung hat es bei den Turnieren vor der WM aber nicht gegeben.
Bundestrainer Alfred Gíslason setzt bei der Handball-WM auf junge Spieler, unter anderem auf Nils Lichtlein, den Sie früher selbst trainiert haben. Sehen Sie Parallelen zwischen ihm und dem damals 22-jährigen Michael Kraus, der 2007 zum WM-Helden aufgestiegen ist?
Das sind so völlig verschiedene Menschen, die man wirklich in ihrer ganzen Attitüde nicht miteinander vergleichen kann. Aber: Kraus hat man damals das Vertrauen gegeben, er hat es genutzt. Und ich bin mir sicher, wenn man Nils das Vertrauen gibt, wird er es auch tun.
In ihrem Haus hängt ein Bild, das Nils Lichtlein für sie gemalt hat. Was schätzen Sie an ihm als Menschen?
Nils ist charakterlich eine glatte Eins. Er ist sehr ehrgeizig und reflektiert. Manchmal aber zu reflektiert und darauf bedacht, dass andere Spieler neben ihm gut aussehen.
Was meinen Sie damit?
Manchmal macht er sich zu viele Gedanken und kommt dann ins Zweifeln. Es gibt da einen Spruch, den ich meinen Spielern gerne auf den Weg gebe: Sieger zweifeln nicht, Zweifler siegen nicht.
Also ist Nils Lichtlein Sieger oder Zweifler?
Nils Lichtlein ist mit sich einfach sehr kritisch, das ist aber nicht immer hilfreich. Das ist zum Beispiel der Unterschied zu Mimi Kraus (lacht).
Am Ende der Spielzeit 2023/24 wurde Lichtlein zum "Nachwuchsspieler der Saison" gekürt. Was ist ausschlaggebend dafür, dass Spieler den Sprung in die Bundesliga schaffen?
Die Grundvoraussetzung ist immer das Talent. Du machst aus einem Esel auch kein Rennpferd. Auf der Talentskala von eins bis zehn muss der Spieler mindestens auf eine Sieben kommen. Die Zahl wird multipliziert mit dem Faktor Einstellung. Den Unterschied macht aber sein Alleinstellungsmerkmal, das Besondere. Der Spieler muss irgendwas besser machen als andere in seinem Jahrgang.

Nils Lichtlein im Trikot von den Füchsen Berlin.Bild: IMAGO images / DeFodi Images
Im Sommer 2016 wechselte der Linkshänder in die Jugendabteilung der Füchse Berlin. Ein großer Schritt für einen 14-Jährigen.
Nils hatte in Regensburg nicht die Trainingsbedingungen, die er bei uns bekommen hat. Er wusste, dass er was wagen muss. Und er wollte das. Im Gegensatz zu Tim Freihöfer (Spieler im erweiterten 35er-Kader, Anm. d. R.), den ich im selben Jahr nach Berlin holen wollte. Tim war im Kopf aber nicht bereit, seine Familie zu verlassen. Hätten wir ihn damals gezwungen, zu kommen, dann wäre das Experiment mit ihm zu 100 Prozent gescheitert.
Zur Genüge verlassen Handballer, die von dem Leben eines Profisportlers träumen, ihre Heimat, um in einem Sportinternat zu leben. Kann das gut gehen?
Nicht jeder ist für Leistungssport gemacht, du musst dafür ein Stück weit geboren sein. Ich habe einen riesigen Respekt vor meinen Jungs, die im Internat leben. Weil sie anders als andere in ihrem Alter auf vieles verzichten müssen: wenig bis gar keine Partys, dafür Training in den Ferien und Spiele am Wochenende.
War Tim Freihöfer nicht dafür geboren?
Wir reden von Kindern. Und von der richtigen Entscheidung für das Kind. Das Kindeswohl steht über allem. Wir tragen die Verantwortung für sie.
In ihrem ehemaligen Amt als Sportvorstand beim DHB haben Sie die Jugendarbeit im deutschen Handball nachhaltig geprägt. Was war der Antrieb dafür?
Ich bin Jugendtrainer aus maximaler Leidenschaft. Ich stehe immer noch morgens in der Halle und trainiere unsere Talente. Jungen Spielern die Möglichkeit geben, sie zu entwickeln, das waren meine Antriebsfedern. Wenn ich in einer Position bin, wo ich das tun kann, wird das auch immer mein Fokus sein. Das war es bei den Füchsen, während meiner Zeit im HBL-Präsidium und beim DHB.
Können Sie einmal tief in sich hineinhorchen und mir die Frage nochmal beantworten?
Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Die Leidenschaft, junge Leute zu entwickeln, treibt mich um. Ich selbst bin kein Familienvater. Wenn man einen Tiefenpsychologen fragt, hat das sicherlich auch etwas damit zu tun.
Was war damals die Idee hinter der Zusammenarbeit zwischen den Füchsen Berlin und dem 1. VfL Potsdam?
Die Idee ist immer noch die gleiche: Jungen Spielern die Möglichkeit geben, Spielpraxis zu sammeln, damit sie sich altersgerecht und klassengerecht maximal entwickeln können.
Bei den Füchsen Berlin sollten sich Jungprofis mit der Bundesliga-Härte vertraut machen, beim Zweitligisten VfL Potsdam sollten sie Spielpraxis sammeln. Weil der VfL im Mai 2024 aufgestiegen ist, spielen beide Teams nun in Bundesliga.
Dass ich mit dem 1. VfL Potsdam in die Bundesliga aufgestiegen bin, war so nicht geplant. Aber mir war es wichtig, den Spielern den Erfolg nicht zu verbauen – ohne unsere Prinzipien zu ignorieren.
Also ist es eher Segen als Fluch, dass jetzt beide Klubs in einer Liga spielen?
Das ist so, wie es ist. Das haben sich die Jungs erarbeitet. Und das würde ich immer wieder so tun. Mit Blick auf die bestmögliche Entwicklung der Spieler wäre der VfL als Erstliga-Reserve besser. Wenn sie aber gut genug sind, dürfen sie bei mir alles.
Für Mathias Gidsel, Spieler der Füchse Berlin, besteht die Chance, mit Gold nach Hause zu fahren. Für Dänemark wäre es der vierte WM-Titel in Folge. Die letzte WM-Medaille für Deutschland liegt hingegen 18 Jahre zurück. Was meinen Sie, fehlt es dem deutschen Team vielleicht noch an individueller Klasse?
Ich glaube, dass man mit Blick auf die individuelle Ausbildung in Richtung Dänemark schauen darf. Aber, dass es dem deutschen Team an individueller Klasse fehle, würde ich nicht sagen. Die Erfolge in der Jugend, insbesondere der WM-Titel der U21-Junioren vor zwei Jahren, zeigen, dass wir in der Hinsicht deutlich aufgeholt haben.
Aber?
Was wir bisher nicht geschafft haben, ist, dass wir unsere jungen Spieler in der NBA des Handballs, sprich: in der Bundesliga, so integrieren, dass sie dort die Erfahrungen sammeln, die sie benötigen. Das machen die Dänen besser.
Und was stimmt Sie positiv?
Mittlerweile setzen viele andere Bundesligisten auf Deutschlands Talente – auch wenn man leider sagen muss, dass wir der einzige Klub sind, der dies in der absoluten Spitze tut. Aber mit Blick nach Hannover, wo Justus Fischer und Renārs Uščins viel Vertrauen und Verantwortung bekommen, glaube ich, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Dafür müssen wir keine Nation kopieren. Wir müssen unsere jungen Talente einfach spielen lassen.