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Missbrauch im Turnen: Ein Problem, das alle Sportarten betrifft

Gymnastics: 47th FIG Artistic Gymnastics World Championships, Oct 8, 2017 Montreal, Quebec, CAN Tabea Alt of Germany competes on the balance beam during the 47th FIG Artistic Gymnastics World Champion ...
Hat Missstände im deutschen Frauenturnen öffentlich gemacht: Tabea Alt.Bild: IMAGO images / Eric Bolte
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Missbrauch im Turnen: Weil Qualität von Quälen kommt

Im Zuge der Missbrauchsvorwürfe von zahlreichen Turnerinnen hat der Deutsche Turnerbund eine Entscheidung getroffen: Die zwei suspendierten Trainer kehren nicht an den Stützpunkt zurück. Und: Eine Kanzlei soll die Vorwürfe untersuchen, ein unabhängiger Expertenrat für Aufklärung sorgen. Warum das Problem tiefer liegt und es mehr braucht als das.
21.01.2025, 10:5721.01.2025, 13:11
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Im Frühling 2024 habe ich meine Handballschuhe an den Nagel gehängt. Da war ich 24 Jahre alt. Wenn man mich fragt, warum ich nicht mehr spiele, sage ich, dass ich mich mehr auf meinen Beruf konzentrieren möchte, dass mir drei bis vier Trainingseinheiten pro Woche und ein Spiel am Wochenende zu viel seien.

Das stimmt, ist aber nur die halbe Wahrheit.

Im Gegensatz zu Tabea Alt musste ich meine sportliche Laufbahn immerhin nicht aufgrund mehrerer Verletzungen beenden. Damals 2021, im Alter von 21 Jahren, musste Alt, die als aufstrebendes Turn-Talent galt, mit dem Leistungssport aufhören. Etwa drei Jahre später hat sie auf Instagram Missstände am Stützpunkt in Stuttgart öffentlich gemacht.

Kritisiert wurden unter anderem "systematischer körperlicher und mentaler Missbrauch". Alt berichtete von "Essstörungen, Straftraining, Schmerzmitteln, Drohungen und Demütigungen". Man habe sie manipuliert und kontrollierbar gemacht. "Wir waren Spielbälle", schrieb sie.

Nachdem Alt nicht länger schweigen wollte, haben sich zahlreiche andere Turnerinnen mit ähnlichen Erfahrungen und Vorwürfen zu Wort gemeldet.

Aber warum erst jetzt? Warum lassen junge Sportler:innen jahrelang so mit sich umgehen?

Der Leistungsgedanke ist das Problem

Oft ist es der Traum vom Erfolg, warum sich Athlet:innen bereits in jungen Jahren abmagern, ihren Körper unterbewusst kaputtmachen. Manchmal gibt es aber auch keine plausiblen Gründe dafür. Manchmal reicht einfach nur die Tatsache, dass es sich hierbei um junge Erwachsene handelt, die leicht zu manipulieren sind.

Junge Erwachsene, von denen man erwarten könnte, auf ihren Körper zu hören. Die wissen sollten, wann es genug ist, aber in einem System aufgewachsen sind, welches dafür sorgt, genau das nicht zu lernen.

Das ist der eigentliche Grund, warum ich nicht mehr Handball spiele. Leistungssport lässt dich vergessen, was es heißt, auf deinen Körper zu hören. Wirklich zu wissen, wann dein Körper erschöpft ist. Das zumindest ist es, was 18 Jahre Handball, davon vier im Leistungssport, mit mir gemacht haben.

Schwäche zeigen im Leistungssport, ist verboten

Ich bin Intervalle gelaufen, bis ich kotzen musste. Obwohl ich den einen Tag noch mit Grippesymptomen im Bett lag, bin ich am anderen Morgen in die Halle gefahren und habe mir die Seele aus dem Leib gespielt.

Als mein Wurfarm im gegnerischen Block hängenblieb und ein Stück Knochen von meinem Daumengelenk abgesplittert war, habe ich nicht aufgehört. Drei Schichten Tape haben dafür gesorgt, dass ich weiterspielen konnte. Und natürlich wollte.

Sich die Schmerzen einzugestehen war keine Option, sich zu widersetzen stand nicht zur Debatte. Stattdessen verspürte ich das Gefühl, die Welt würde untergehen, wenn ich mir meine Handballschuhe nicht schnüre und meinen gottverdammten Arsch auf die Platte schwinge. Weil Sieg oder Niederlage ganz allein von mir abhingen.

Meine Eltern waren Teil des Problems – ohne es zu wissen

Ich wurde von einem Mann trainiert, auf dessen T-Shirt stand: "Qualität kommt von Quälen". Die Tatsache, dass das T-Shirt ein Geschenk war und aus den Reihen unserer Eltern stammte, macht es nicht besser. Ganz im Gegenteil. Meine Eltern waren Teil des Problems.

Team-Timeout: Unsere Autorin mit der Nummer 7.
Team-Timeout: Unsere Autorin mit der Nummer 7.bild: watson/ privat

Aber auch wenn ich es wollte, ich kann meinen Eltern keinen Vorwurf machen. Denn Eltern wissen genauso wenig wie ihre Kinder, was es wirklich bedeutet, Leistungssport zu machen. Keiner sagt dir, wo Missbrauch anfängt und wann er dir nachhaltig schaden kann. Tabea Alt wusste das auch erst später.

Meine Eltern haben damals nicht gewusst, welche Narben der Leistungssport auf meiner Seele hinterlassen würde. Dass ein "Ich will nicht mehr Handball spielen", wenn ich mich weinend nach dem Training ins Auto neben meine Mutter gesetzt und ihr erzählt habe, warum mir der Sport keinen Spaß mehr macht, nicht die Aufforderung war, mich zu trösten. Es war der unausgesprochene Wunsch, mir zu helfen.

Deshalb ist es mir an dieser Stelle wichtig zu sagen: Mama, es ist okay, du konntest es nicht wissen.

Dafür gibt es genug Menschen, die es besser wissen können, gar besser wissen müssen. Menschen, die in Gremien oder Vorständen sitzen. Menschen, die für den Erfolg eines Vereins oder Verbands zuständig sind, dabei aber vergessen, dass nicht der Erfolg, sondern das Kindeswohl an erster Stelle steht und keinesfalls verhandelbar ist.

Menschen, die das System Leistungssport zu dem machen, was es nun einmal ist: Ein Ort, an dem Sportler:innen – um es mit den Worten von Tabea Alt zu sagen – zu Spielbällen werden.

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