Die Abwehrprobleme beim FC Bayern ziehen sich wie ein roter Faden durch die Saison. Darüber können auch die zwischenzeitlich sieben Spielen in Folge ohne Gegentor im Oktober und November nicht hinwegtäuschen. In bisher 39 Pflichtspielen kassierte der FC Bayern bereits 38 Gegentreffer.
Im watson-Interview erklärt Holger Badstuber, warum die Münchner dieses Problem jedoch nicht exklusiv haben, welche Fehler er von der ersten bis zur dritten Liga aktuell häufig beobachtet und was in der Ausbildung neuer Abwehrspieler falsch läuft.
Watson: Holger, im US-Sport gibt es das Sprichwort: "Die Offensive gewinnt Spiele, die Defensive Meisterschaften." Gilt das auch im Fußball?
Holger Badstuber: Das lässt sich auf viele Teamsportarten übertragen und somit natürlich auch auf den Fußball. Umso länger ein Wettbewerb geht, desto mehr ist natürlich auch die Defensive gefragt. Das bedeutet aber nicht nur die letzte Reihe, sondern die allgemeine Einstellung zur Defensivarbeit muss stimmen: vom ersten bis zum elften Mann.
Ist der Fokus darauf im aktuellen Fußball abhandengekommen?
Es ist allgemein ein bisschen verloren gegangen, dass beim Verteidiger vor allem das Verteidigen an erster Stelle steht.
Wie meinst du das?
Es geht aktuell eher um den Spielaufbau, Läufe nach vorne und den Offensivdrang. Aber in erster Linie bist du Verteidiger: Du musst dafür sorgen, dass so wenig wie möglich zugelassen wird. In der Verteidigung musst du im Verbund miteinander interagieren, kommunizieren und ein Gefühl füreinander haben. Das geht bei der primären Ausbildung von Verteidigern etwas verloren. Bei den Themen Zweikampf und verteidigen ohne Ball sehe ich speziell in Deutschland einige Defizite.
Hast du konkrete Beispiele?
Dass man zum Beispiel seitlich steht, wenn man einen langen Ball erwartet. Da stehen einige frontal und natürlich ist der Stürmer dann im Vorteil, wenn du dich erst drehen musst. Oder wenn von der Seite Bälle zwischen Torhüter und Abwehrlinie kommen: Da gilt es erstmal, im Vollsprint hinter den Ball zu kommen, denn nach vorne kannst du immer gehen.
Eigentlich kein Hexenwerk.
Definitiv nicht. Es geht um Details, die einfach zu trainieren sind. Zumal es durch das viele Bildmaterial auch eine visuelle Unterstützung gibt.
Haben wir in Deutschland verlernt, zu verteidigen?
Nein. Ich glaube, wir haben in der Ausbildung, wie ein moderner Verteidiger aussehen soll, den Fokus verändert. Das führt aber dazu, dass den Spielern gewisse Dinge wie das Kopfballspiel nicht richtig erklärt werden. Auch banale Techniken wie Pässe, Zweikämpfe, Läufe musst du tausendmal wiederholen, damit ein Automatismus entsteht.
Inwiefern muss sich etwas ändern?
Es geht darum, das Gefühl zu vermitteln, dass da ein Abwehrverbund ist, der sich unterstützt. Denn dann gehst du mit einer ganz anderen Einstellung in den Zweikampf. Du stehst in der Abwehrreihe nie allein da, sondern hast immer einen Mitspieler, der hilft, wenn dir ein Fehler unterläuft. Aber das wird nicht mehr so intensiv trainiert, sondern der Fokus wird darauf gerichtet, wie man ein Spiel auslöst oder den Ball in die nächste Kette liefert.
Würdest du irgendwem die Schuld an dieser Entwicklung geben?
Nein, das ist einfach die aktuelle Ausrichtung. Das führt uns aber zum nächsten Punkt, den ich auch schon viel mit ehemaligen Kollegen diskutiert habe.
Welchen?
In der ersten bis zur dritten Liga haben wir uns in Deutschland darauf fokussiert, dass jeder das Spiel von hinten flach aufbauen möchte. Aber manchmal ist der lange Ball auch nicht verkehrt. Ich vermisse eine gewisse Variation. Um flach aufzubauen, brauchst du nicht nur die passenden Spieler in der Abwehr, sondern auch in den nächsten Reihen Spieler, die den Ball haben wollen. Dann geht es auch wieder um den richtigen Moment und die Passschärfe – Dinge, die man einfach immer wieder trainieren muss.
Hat man sich auch zu sehr an Spanien und deren Erfolgen orientiert?
Ja. Aber die Spanier haben diese Spielweise schon immer in ihrer DNA. Unsere Stärke war immer der Verbund und das Abwehrverhalten und das sollten wir beibehalten. Dass wir stark im Team sind, hat man ein bisschen zur Seite geschoben und schaut viel zu den Spaniern, Südamerikanern oder aktuell Belgiern, weil sie so viele Einzelkönner hervorgebracht haben. Aber warum schaut man sich so viel von den anderen ab? Man kann gewisse Dinge addieren, aber nicht kopieren. Ich bin gespannt, wie sich dieser Prozess in den kommenden fünf Jahren entwickelt.
Bei Real Madrid stehen manchmal bis zu drei gelernte Mittelfeldspieler in der Abwehrreihe. Warum kann das trotzdem funktionieren?
Obwohl sie nicht aufeinander abgestimmt sein können, setzen sie sich füreinander ein und gehen für die Mannschaft den einen Meter mehr. Gerade, wenn die absoluten Topstars in der Offensive nicht jeden Weg nach hinten machen. Diese Einstellung zueinander ist enorm wichtig und das sieht man bei einer Mannschaft, wenn man genau hinschaut. Bei Real Madrid erkenne ich das seit Jahren.
Erkennst du das auch beim FC Bayern?
Manchmal mehr, manchmal weniger.
Hast du eine Erklärung, warum das so ist?
(überlegt lange) Ich weiß es nicht. Ich würde zu bedenken geben, ob die Mannschaft so homogen ist und das Mindset passt, um internationale Titel zu holen. Die Bundesliga werden sie gewinnen, in der Champions League muss man abwarten, ob Vincent Kompany seiner Mannschaft das mitgeben kann, was sie für diese Spiele braucht. Auch, wenn das 3:0 gegen Leverkusen natürlich ein kleines Ausrufezeichen war.
Kompany hat seine hohe Verteidigungslinie im Laufe der Saison etwas angepasst, dennoch stehen Kim und Upamecano noch immer sehr weit in der Hälfe des Gegners. Macht so ein Spielstil als Verteidiger Spaß?
Es kann Spaß machen. Wenn ich weiß, ich gehe ein krasses Risiko ein, brauche ich Vertrauen in meine Mitspieler, dass sie mich absichern. Sie haben schnelle Spieler wie Upamecano und Davies, die Fehler ausmerzen können. Aber wenn sie das Mindset nicht haben: "Ich bin da, wenn etwas schiefgeht", dann wird es schwer.
Beim FC Barcelona unter Hansi Flick gibt es auch immer wieder große defensive Lücken, das kompensieren sie hingegen mit ihrer Offensivpower. Könnte das die Anfangsthese ad absurdum führen?
Ich glaube, das führt nicht zum großen Erfolg wie dem Champions-League-Sieg oder der Meisterschaft. Sie sind zwar Tabellenführer in Spanien, aber ich gehe davon aus, sie werden durch ihre Spielweise noch Punkte lassen. Für die Zuschauer ist das natürlich spektakulär, aber wenn das gegen Topteams über zwei Champions-League-Spiele funktioniert, wäre ich erstaunt. Dann wäre der moderne Fußball wieder revolutioniert.