Vizemeister und Vizepokalsieger – die gute Saison von Roman Neustädter als Stammspieler bei Fenerbahce Istanbul wurde mit keinem Titel belohnt. Deswegen sollte die WM in seiner Heimat sein Highlight der Saison werden. Nachdem der 30-Jährige in den vorläufigen Kader berufen worden war, strich ihn der russische Nationaltrainer Stanislav Cherchesov jedoch vor einer Woche überraschend aus der endgültigen Auswahl.
"Klar, ich bin enttäuscht", sagt er im Gespräch mit watson. Bei der EM vor zwei Jahren lief er erstmals für die Sbornaja auf. Kurz zuvor hatte er die russische Staatsbürgerschaft erhalten. Der Ex-Profi von Schalke 04 und Borussia Mönchengladbach ist in Deutschland aufgewachsen, wurde aber in der heutigen Ukraine geboren – sein Vater ist Ukrainer, seine Mutter Russin.
Nach der WM-Absage flog er nach Ibiza in den Urlaub. Mit watson spricht er erstmals über die bittere Nachricht des Nationaltrainers, und darüber, warum er keine faire Chance bekommen hat und was homosexuelle Fans während der WM in Russland zu befürchten haben.
Wie hast du Bescheid bekommen, dass
du nicht bei der WM dabei bist?
Roman Neustädter: Der Trainer hat mich
einen Tag vor der Verkündung in sein Zimmer gerufen und mir einige Dinge
vorgehalten, die ihm nicht gefallen haben und die mir fehlen würden. Er sagte, dass nun ein Jahr vergangen sei, dass sich seitdem nicht viel verändert habe bei mir und ich nicht
dabei sei.
Was hat er genau kritisiert?
Das bleibt zwischen dem Trainer und mir. Aber ich teile die Meinung des
Nationaltrainers nicht. Ich bin fit, habe eine Saison bei Fenerbahce durchgespielt und Leistung gebracht. Auch in den Trainingseinheiten war ich
gut. Ich denke, es hat nicht mit meiner sportlichen Leistung zu tun, dass ich
nicht mit zur WM darf. Es muss einen anderen Grund haben.
Hat es mit dem
nächtlichen Discobesuch mit Nationalmannschaftskollege Konstantin Rausch zu tun,
als ihr beiden eine Geldstrafe zahlen musstet?
Das glaube ich nicht.
Das ist vor Monaten passiert und spielt keine Rolle mehr, denke ich. Ich weiß
nicht, was ausschlaggebend war.
Bist du davon
ausgegangen, dass du dabei bist?
Ja, ich habe mir alle
Chancen ausgerechnet, dabei zu sein und auch zu spielen. Ich weiß, dass ich der
Mannschaft helfen kann. Gerade bei so einem Turnier braucht man Spieler, die
mit Druck umgehen können. Ich war dementsprechend geschockt und sehr enttäuscht.
Ich wusste auch nicht, was ich dem Trainer da noch sagen sollte. Ich habe ihnen
alles Gute zur WM gewünscht und bin nach Hause gefahren – bevor da noch
irgendetwas aus der Emotion heraus entstehen konnte.
Wie etwa ein Rücktritt?
Nein, das steht außer
Frage. Aber ich möchte eine reale und gerechte Chance bekommen, in der
Nationalmannschaft zu spielen. Außerdem habe ich in den letzten zwei Jahren
zwei Spiele machen können. Ich habe keine faire Chance bekommen mich zu
zeigen.
Wie schätzt du die
Chancen der russischen Mannschaft ein?
Das weiß ich nicht. Ich
bin seit einer Woche nicht mehr bei der Mannschaft und weiß nicht, wie die
Atmosphäre ist. Die letzten Ergebnisse waren nicht gut und es herrscht sehr
viel Druck auf der Mannschaft. Ich hoffe, dass die Jungs das Auftaktspiel gegen
Saudi-Arabien gewinnen und dass dann der Druck abfällt.
Das primäre Ziel ist, in der Gruppe weiterzukommen. Danach muss man von Spiel zu Spiel schauen. Es wird schwer, denn Ägypten und Uruguay haben starke Spieler. Andere Länder hatten auch schon Probleme mit Saudi-Arabien. Das Wichtigste ist aber, mit dem Druck klar zu kommen. Ganz Russland steht hinter einem, was aber sehr schnell umschlagen kann.
Wie ist die Euphorie im Land?
Das Land hat Lust auf
die WM. Aber man muss auch sagen, dass wir Spieler das gar nicht so mitbekommen
haben in den Tagen in Moskau. Wir haben nicht viel gesehen außer den Trainingsplatz.
Die brasilianische
Regierung warnte ihre Fans vor Homophobie im öffentlichen Raum in Russland. Zenit St. Petersburg musste erst vor einigen Tagen 50.000 Euro für rassistische Rufe der eigenen Anhänger gegen
RB Leipzig bezahlen. Müssen sich homosexuelle und ausländische Fans in
Russland fürchten?
Ich denke, dass die Lage
in Russland ganz sicher Besucher aus aller Welt ist, auch für Homosexuelle.
Und ich glaube auch, dass alles friedlich bleibt. Die Russen freuen sich, Menschen aus anderen Ländern und verschiedenen Kulturen kennenzulernen.
Vor
allem aber kann die Welt das Land kennenlernen und sich ein eigenes Bild machen. In den Medien gibt es ein sehr negatives Bild von
Russland und ich glaube, viele Fans werden sehr überrascht sein, wie schön das
Land ist und wie nett die Menschen sind.