Die Europameisterschaft neigt sich dem Ende und mit ihr vor allem die Erkenntnis, dass sich Christoph Kramer seinen Platz im Olymp der TV-Expert:innen gesichert hat. Nicht nur die Fußballer haben schweißtreibende Performances geliefert, auch die audiovisuelle Begleitung hat sich dem Spektaktel hingebungsvoll gewidmet. Zeit für ein Fazit.
Im Gespräch mit watson erklärt Christoph Bertling, geschäftsführender Leiter des Instituts für Kommunikation und Medien an der Deutschen Sporthochschule Köln, was Per Mertesacker von Lothar Matthäus lernen kann, warum es auf einmal mehr Expert:innen als Profis gibt, und wo die vermeintliche Fachkompetenz ins Gefährliche abrutscht.
Watson: Herr Bertling, von wem wollten Sie nach dem deutschen EM-Aus lieber getröstet werden: Bastian Schweinsteiger oder Christoph Kramer?
Christoph Bertling: Ich glaube, dass sie sehr unterschiedlich in ihrer Herangehensweise sind. Kramer ist analytisch interessanter und kann erzählen, warum man ausgeschieden ist. Emotional nimmt man das Schweinsteiger aufgrund seiner langen Erfahrung und der vielen Erfolge stärker ab. Beide sind auf ihre Art und Weise gut.
Christoph Kramer ist bei dieser EM zum Star unter den TV-Experten geworden, aber schon seit 2018 beim ZDF. Warum erst jetzt?
Ich finde, dass er die Popularität schon davor hatte und sie eigentlich nur untermauert. Er geht sehr sachlich und analytisch vor. Wenn er die Spielbeobachtung macht, bringt er das sehr gut auf den Punkt und hat eine fachliche Expertise, die man ihm abnimmt und auch versteht. Er hat eine kommunikative Kompetenz und gleichzeitig Fachkompetenz. Das macht Lothar Matthäus auch zunehmend.
An der Seite von Kramer fällt Per Mertesacker als ZDF-Experte teilweise ab. Was kann Mertesacker von Matthäus lernen?
Mertesacker hat noch nicht die ganz große Erfahrung, man muss sich in dem Kontext auch erstmal wohlfühlen. Die Fachkompetenz hat er auf jeden Fall. Vielleicht muss er noch das Gefühl entwickeln, wie man vermitteln kann. Mertesacker war nie so flapsig, wie es Matthäus war. Vielleicht ist er manchmal noch ein bisschen hölzern, aber das wird sich ausschleifen.
Die Flapsigkeit von Matthäus ist etwas Gutes?
Ich glaube, es kommt immer darauf an, wie man die Sendungen besetzt. Sie sind als Experten angestellt, um Fachkompetenz hereinzubekommen. Und das tun sie alle. Aber es ist letztlich eine Unterhaltungssendung, bei der man gucken muss: Was ist unterhaltsam und was flapsig? Kramer und Matthäus haben das in weiten Teilen für sich herausbekommen.
Beim "RTL EM-Studio" saßen Stefan Effenberg und Mario Basler, die ihre immergleichen Sprüche raushauen.
Man braucht als Experte ein Gespür. Sportliche Exzellenz reicht nicht, um zu sagen, man ist ein toller Experte. Man muss auch verstehen, wie und mit wem man kommuniziert. Wenn man ein Massenpublikum anspricht, muss man sich ziemlich genau überlegen, was man sagt und was nicht. Es kann nicht alles aus dem Bauch heraus kommen. Das ist gefährlich.
Wo haben Sie die Halbfinals verfolgt? Bei MagentaTV oder bei den Öffentlich-Rechtlichen?
Bei den Öffentlich-Rechtlichen.
Wieso?
Letztendlich ist es ein Gewohnheitssehen, dass man eine EM bei den Öffentlich-Rechtlichen anschaut, weil sie dort immer war.
Worin haben sich die Öffentlich-Rechtlichen von den Privaten unterschieden?
Magenta geht beim Spiel mehr in die analytische Tiefe und es gibt einen stärkeren Eventcharakter – das ist aber nicht negativ. Die Rahmung wird auch ein bisschen größer gesetzt. Das Spiel an sich ist in der Kommentierung relativ austauschbar, und das Bildsignal wird sowieso von der Uefa hergestellt. Von daher ähnelt sich die Live-Berichterstattung ziemlich stark an. Bei Magenta ist es etwas spezifischer.
Und wie heben sich die Öffentlich-Rechtlichen ab?
Die großen Sportveranstaltungen werden dort viel größer aufgefahren, wenn man sich die Bühnen und die ganze Eventisierung anguckt. Das ist schon Gigantismus, den man sich teilweise bei den Privaten gar nicht leisten kann. Es ist ein Gewohnheitseffekt und auch insgesamt ein anderer Qualitätsstandard.
Wäre es nicht Aufgabe der Privaten, ein wirklich anderes Angebot zu liefern, das sich von den Öffentlich-Rechtlichen abhebt?
Der Lagerfeuereffekt, wenn wir uns ein Fußballspiel angucken, ist die Live-Berichterstattung. Und sich da groß abzuheben, ist relativ schwer. Magenta hat es ein bisschen gemacht, indem man den Tactical Feed von der Uefa eingekauft hat. Das Rahmenprogramm ist nicht so stark nachgefragt wie das Live-Segment.
Eine These: Schweinsteiger funktioniert mit Esther Sedlaczek deutlich besser als mit Alexander Bommes. Sind Expert:innen letztlich nur so gut wie die Moderator:innen, mit denen sie arbeiten?
Das ist sehr unterschiedlich. Natürlich ist das Wechselspiel zwischen den beiden gut, aber ich würde nicht sagen, dass der Moderator dafür verantwortlich ist. Das ist eher der Profi. So viele Experten machen das schon über Jahre und haben teilweise einen sehr professionellen Standard.
Was sind die Ausnahmen?
Manchmal kommt es vor, dass sie zu flapsig sind und zu stark abdriften. Es gab so manches Ärgernis, dass zu viel über Alkohol gesprochen wurde.
Haben Sie ein Beispiel?
Eine Sendung im Deutschlandfunk und ein Text in der "FAZ" haben sich damit befasst. Einmal war es Kramer, ein anderes Mal Hitzlsperger. Man versucht im Wechselspiel zwischen Experte und Moderator viele solcher Passagen zu haben, und das driftet dann schon mal ab. Aber insgesamt war die Berichterstattung auf sehr hohem Niveau in anderen Bereichen.
Was macht eine gute Fußball-TV-Sendung aus?
In erster Linie muss es gute Unterhaltung sein. Das Spiel steht im Vordergrund und dieses Spiel muss gut vermittelt werden. Es muss auch eine Atmosphäre widerspiegeln können, aber immer am eigentlichen Geschehen orientiert. Und das ist Fußball als Event.
Als wohl populärste Sport-TV-Berichterstattung gilt die Champions-League-Show des US-Senders CBS Sports um Kate Abdo, Thierry Henry, Micah Richards und Jamie Carragher. Wieso gibt es so etwas nicht in Deutschland?
Wir gehen mit dem Sport und dem Fußball noch ernster und konservativer um, als es viele Leute im Ausland machen. In England und den USA ist es viel stärker ein Unterhaltungsprodukt und das wird auch so gesehen. Wir sind nicht so locker, dass wir solche Formate zulassen.
Könnte so ein Format hierzulande funktionieren?
Es wäre ein Wagnis. Für eine gewisse Gruppe sicherlich. Ob es in der Masse funktioniert, müsste man gucken. Ich glaube, dass der Fußballjournalismus viel mehr ausprobieren kann, weil man viel mehr Möglichkeiten hat, Formate zu entwickeln. Über digitale Tools lassen sich auch kleinere Gruppen ansprechen und in der Liveberichterstattung kann man auf die Masse gehen. Von daher: Warum nicht ausprobieren?
Während weibliche Gesichter auf der Expertencouch Standard sind, erhitzen weibliche Stimmen offenbar immer noch die Gemüter – siehe Claudia Neumann. Woran liegt das?
Kommentatorinnen wird viel stärker eine Fachkompetenz ins eigentliche Geschehen zugemessen. Und es gibt natürlich die Ewiggestrigen, die Frauen keine Fach- oder Vermittlungskompetenzkompetenz zusprechen. Moderatorinnen präsentieren hingegen die Sendung. Das braucht natürlich auch Fachkompetenz, aber das sportliche Live-Geschehen ist die Kommentierung – und da sind die Emotionen viel größer.
Es gab wohl noch nie so viele Expert:innen bei EM-Übertragungen. Wie lässt sich diese Fülle erklären?
Es ist sehr teuer, externes Bildmaterial einzukaufen, etwa wenn man verschiedene Mazen macht. Die langen Sendestrecken werden nicht mehr so stark mit gebauten Stücken gefüllt. Dafür werden Experten eingekauft, die im Verhältnis vielleicht günstiger sind. Das kann sich durchaus lohnen, wenn man lange Sendestrecken hat. Bei den Olympischen Spielen ist das der Fall, ich könnte mir vorstellen, dass das bei der EM auch so ist.
Was ist nicht so gut gelungen?
Die Schablone des neuen Sommermärchens hat man vielleicht etwas überstrapaziert.