Am Sonntagabend steht die Schweiz still. Endlich einmal die Deutschen als Gegner!
Wir haben ja in dieser Beziehung einen Minderwertigkeitskomplex. Da müssen wir gar nicht drum herumreden.
Nur schon dafür, wie geschliffen ihr Deutschen reden könnt, beneiden wir euch. Wir teilen die Sprache und eine Grenze, aber wir wissen, dass wir uns nicht auf Augenhöhe begegnen.
Hier bei uns in der Schweiz kennt jeder Bayern München und Borussia Dortmund. Umgekehrt sind für euch Deutsche Schweizer Fussballklubs so exotisch wie der Pokalsieger aus Uganda.
(Anmerkung der deutschen Kolleg:innen: Ebenso wie die Tatsache, dass ihr kein "ß" verwendet und "Fussball" schreibt. Aber vor dem Spiel lassen wir das aus freundschaftlicher Verbundenheit mal hier so stehen.)
Das ärgert uns dann doch ein wenig, selbst wenn wir das nie zugeben würden. Lieber ballen wir die Faust in der Tasche, darin sind wir gut.
Aber wir würden schon gerne ernst genommen werden, ein bisschen wenigstens, "es bitzeli".
Wir wollen mehr sein als die unscheinbare Cousine, die am Familienfest halt auch noch da ist. Aber ihr wollt lieber mit anderen Verwandten spielen, am liebsten mit den Holländern.
Die Schweizer? Sprechen so niedlich. Und ihr versteht ja sogar diesen urigen Dialekt!
Nun, liebe Freunde, ich verrate euch jetzt mal ein kleines Geheimnis: Das ist gar nicht unser Dialekt. Das ist Hochdeutsch, das wir mit euch sprechen. Wir können es einfach nicht besser, wir bringen unsere Krächzlaute nicht weg.
Das Missverständnis sei euch verziehen. So wie jenes der "Bild"-Zeitung, bei der irgendwann mal jemand aufschnappte, dass viele unserer Wörter mit -li enden. Und die seither konsequent von Fränkli statt Franken schreibt, wenn es um unsere Währung geht. Fränkli? Kein Schweizer sagt das so.
Was wir hingegen sagen: Gummihälse. Das ist unser Wort für Deutsche, und wenn ihr das nicht glaubt, könnt ihr es nachlesen, das Wort besitzt einen Wikipedia-Eintrag.
Falls ihr jetzt hofft, dass das eine charmante Bezeichnung ist, dann täuscht ihr euch. Auch nicht überaus nett ist es, dass samt und sonders alle Deutschen für uns Schwaben sind.
Aufmerksame Zeitgenossen können dies daran erkennen, dass dem Gummihals und dem Schwaben häufig ein unanständiges Wort mit "sch" vorangestellt wird.
Ihr mögt uns. Die majestätischen Alpen und die vielen Seen: So bezaubernd! Die Städte: So sauber! Die Banken: Fragt Uli Hoeneß. Und erst die Bahn: So pünktlich!
Wenn bei uns ein Zug mal eine Minute zu spät kommt, blicken alle Wartenden nervös aufs Smartphone, haben aber noch nicht mal den Fahrplan aufgerufen, da fährt der Zug schon ein.
Weil wir so anständig sind, komme ich erst jetzt, nach mehr als 2600 Zeichen, zur Wahrheit: Wir mögen euch Gummihälse nicht ganz so gut wie ihr uns. Wir sind so eifersüchtig auf euch.
Wie gerne würden wir auch frühmorgens am Hotelpool den Liegestuhl im Schatten mit einem Badetuch besetzen! Aber wir trauen uns nicht. Dann lieber einen Sonnenbrand holen und abends am Buffet über die frechen Deutschen lästern.
Führen die vielen -li in unserer Sprache dazu, dass wir uns kleiner machen, als wir sind? Oft muss der Einkauf in einer Bäckerei herhalten, um zu illustrieren, was uns unterscheidet.
Der Schweizer fragt die Verkäuferin scheu, ob es wohl möglich sei, wenn es ihr auch wirklich nicht zu viel ausmache, bitte ein Gipfeli kaufen zu dürfen. Der Deutsche tritt selbstbewusst an die Theke und ruft: "Ich krieg ein Hörnchen!"
Deutsche sind laut und arrogant, das ist die landläufige Meinung. Selten war das so augenscheinlich wie damals, als Finanzminister Peer Steinbrück der Schweiz wegen des Bankgeheimnisses mit dem Einritt der Kavallerie drohte. "Peitschen-Peer" machte deutlich: Wir Deutschen sagen euch, was ihr zu tun habt. Ich Chef, du nix.
Wir sind doch so ein grossartiges Land. Aber wenn ihr hier seid, behandelt ihr uns Schweizer mit unseren Bergen und Seen wie ein Ausstellungsobjekt im Legoland, nur weil hier alles funktioniert, die Wege kurz sind und alles so schön aufgeräumt ist.
Das nervt!
Wir wollen ernst genommen und nicht mit Schweden verwechselt werden. Oder gar mit Österreich, um Himmels Willen.
Wusstet ihr eigentlich, dass Deutschland für uns der "grosse Kanton" ist? So heissen bei uns die Bundesländer – Deutschland wird hinzugezählt und zum grossen Bruder gemacht. Ich sag’s ja: Minderwertigkeitskomplex.
Schweizer wissen dank dem deutschen Fernsehen so viel über euch, über eure Kultur, über euer Leben. Und umgekehrt? Wahrscheinlich könnt ihr unsere Fahne nicht einmal mit der von Dänemark unterscheiden.
Wir führen eine ungleiche Beziehung.
Weil wir im richtigen Leben nichts zu melden haben, seid ihr im Sport zu unserem Erzrivalen geworden. Aber nicht mal das werdet ihr wissen, ihr Ignoranten.
Dass wir euch unlängst an der Eishockey-WM endlich wieder einmal besiegt haben? Wurde südlich des Rheins frenetisch gefeiert, nördlich davon knapp oder gar nicht registriert.
Und darum wollen wir es euch jetzt endlich einmal richtig zeigen.
Nicht beim Eurovision Song Contest, den wir vor einigen Wochen mit Nemo gewonnen haben. Ha! Nein, wir wollen euch da treffen, wo es euch am allermeisten schmerzt: beim Fussball.
Seit wir Schweizer uns 1993 nach fast drei Jahrzehnten des Wartens erstmals wieder für eine Fussball-WM qualifiziert haben, trafen wir nie mehr an einem grossen Turnier auf Deutschland. Wir brennen darauf, euch zu zeigen, was die unscheinbare Cousine drauf hat, um dann vielleicht endlich mal beachtet zu werden.
Aber keine Angst: So furchtbar ernst ist unsere Abneigung euch gegenüber nicht. Als neutrale Diplomaten, die wir nun mal sind, heissen wir euch Deutsche jederzeit herzlich willkommen.
Damit ihr unsere gesunde Schweizer Alpenluft atmen könnt.
Und natürlich, damit ihr eure Fränkli hier lässt.