Zerbrochenes Geschirr liegt auf den Kalkfliesen eines Pubs, ein Fan sitzt kauernd auf dem Boden, die Arme um die Beine geschlungen. Regen prasselt auf die Windschutzscheibe eines Autos. 1996, England ist ausgeschieden, aus der Europameisterschaft im eigenen Land.
Leise setzt im Hintergrund "Hey Jude" von den Beatles ein, krisselige Aufnahmen zeigen einen vielleicht zehnjährigen Bellingham. Stollen klackern über nassen Asphalt und die weltbekannten zerrissenen Stutzen blitzen auf. Dann, als sich der Refrain einem Crescendo Bahn bricht, macht er das Tor: Jude Bellingham. Bierbecher fliegen, Stormzy und David Beckham jubeln, Zehntausende singen seinen Vornamen. Hey, Jude.
"You got this", steht am Ende jenes Adidas-Werbespots, der den 21-Jährigen als gottgleichen Heilsbringer inszeniert. "Du packst das". Wenn für England was geht, jetzt, im Sommer 2024, so lautet die unmissverständliche Message, dann durch ihn. Durch Jude Bellingham.
Nun steht England entgegen jeder Gerechtigkeit oder Gnade des Fußballgotts im Halbfinale der Europameisterschaft. Am Mittwochabend um 21 Uhr treffen die Three Lions auf die Niederlande. Und das haben sie vor allem dem Mann mit den so ikonisch zerrissene Stutzen zu verdanken.
Die Mannschaft, die von ihrem Trainer Gareth Southgate zur ästhetischen Biederkeit verdonnert scheint, ist einzig und allein auf die individuelle Klasse ihrer für sich genommenen Weltklasse-Akteure angewiesen. Und auf der Welt gibt es derzeit keinen Besseren als Bellingham.
Eine Handvoll Sekunden waren im Achtelfinale gegen die Slowakei noch zu spielen, England lag mit 0:1 zurück, einen Augenblick vom Ausscheiden entfernt. Eine Ecke segelt in den Strafraum und Bellingham trifft per Fallrückzieher zum 1:1. Breitbeinig läuft er an den Seitenrand und ruft, das Dilemma der englischen Spielweise zusammenfassend: "Who else?" – Wer sonst?
Und auch wenn die Engländer mit Nachdruck bewiesen haben, dass die rhetorische Frage nur kleinlaut mit "niemand" beantwortet werden kann, wurden alsbald Stimmen laut, die Bellinghams Verhalten als Arroganz auslegten: das theatralische Hinfallen bei Fouls, das Abwinken bei Fehlpässen seiner Mitspieler, das larmoyante Lamentieren mit dem Schiedsrichter. Kurz: es neymart.
Eine obszöne Geste in Richtung der slowakischen Bank brachte ihm letztlich sogar eine Geldstrafe in Höhe von 30.000 Euro ein.
"Jude Bellingham ist ohne seine Mitspieler nichts", sagte Lohnsteuer-Rohrspatz und TV-Experte Didi Hamann. Von seinen Toren abgesehen, "tut er nichts". ZDF-Experte Christoph Kramer warnte, Bellingham müsse aufpassen, "dass er jetzt nicht anfängt, Allüren zu kriegen im ganz jungen Alter".
Nun gehört es zum deutschen Sentiment, jedes noch so kleine Aufflammen von Flamboyanz und Exaltiertheit im Keim ersticken zu wollen. In einem Land, in dem ein Thomas Müller schon das obere Ende der Extrovertiertheitsskala ausmacht, sprengt Jude Bellingham die eingeübte Metrik des Erträglichen. Was erwarten die Menschen, die alles von Bellingham erwarten?
"Don't carry the world upon your shoulders", heißt es in "Hey Jude". Die Wahrheit ist: Er hat gar keine Wahl. Er allein trägt die Last der Verantwortung auf seinen Schultern und solange Gareth Southgate seine taktische Herangehensweise nicht anpasst, wird sich daran auch nichts ändern.
Er wisse, was er in solchen Momenten liefern könne, unabhängig davon, was andere sagen, sagte Bellingham nach dem Achtelfinalsieg. "Ich hab es dieses Jahr schon für Madrid getan, ich hab es schon zuvor für England getan." Wenn alle Augen auf Bellingham ruhen, alle Last an ihm hängt, können seine Kollegen befreiter, unbedarfter aufspielen. Mit seiner Strahlkraft (Tiktok-Lingo: Aura) entlastet Bellingham letztlich seine Mitspieler.
Natürlich könnte sich Bellingham nach dem Spiel auch vor die Kameras stellen und sagen, dass er sich einfach für die Mannschaft freue, dass sie weitergekommen ist. Er könnte die Leistung seiner Mitspieler loben und zu Besonnenheit vor dem nächsten Spiel mahnen. So wie der Großteil seiner Berufsgenossen auch. Das ist nur leider furchtbar langweilig.
Der Fußball lebt von Personen wie Jude Bellingham. Von Sonnengöttern wie Zlatan Ibrahimović und Schweinwerferlichtmotten wie George Best. Spieler, deren Selbstverständnis zur selbsterfüllenden Prophezeiung wird. Die ihre Kollegen überstrahlen und gleichzeitig Schatten spenden, in dem sie gedeihen können. Es ist sogar so: Ohne Spieler wie Bellingham hätte der Fußball nie seinen globalen Siegeszug erreicht. Und ohne ihn wäre die EM um das spektakulärste Tor ärmer. Who else?