Ein Gespenst geht um in Berlin, es trägt Micro-Shorts, einen krisseligen Schnauzbart und hört auf den Namen Harry Styles. Gedankenverloren streicht er über jene Landstriche von Berlin, wo viel Lululemon getragen und Matcha getrunken wird, dort, wo man mit der Hand stoppen kann, wie der Quadratmeterpreis in schwindlige Höhe kraxelt, wenn nebenan ein neues Studio Reformer-Pilates vor Glasbausteinfront anbietet.
Moment, war das nicht doch der eine von der Elevator-Boys? Oder Elton? Nein, nein, nein, das muss er sein! Harry Styles in Berlin, mein Gott, ich muss mich erst mal hinsetzen.
Seit nunmehr Monaten gehen die Lawinen von Styles-Sichtungen über Social Media einher: im Berghain, auf Leih-Fahrrädern, bei Szene-Bäckereien. Nach dem 31-jährigen Pop-Phänomen wird mittlerweile gefahndet wie einst nach dem Yeti oder dem Bernsteinzimmer. RTL begibt sich "auf Spurensuche", die "Bild" scheint Budget für einen eigenen Styles-Korrespondenten zusammengekratzt zu haben und selbst die altehrwürdige ARD hat berichtet.
Vor den Hansa-Studios, wo Styles vielleicht, vielleicht aber auch nicht, sein viertes Album aufnimmt, stehen in regen Abständen Fernsehteams, im Dunstkreis ist er schon mit seinem Haus-und-Hof-Musikproduzenten Kid Harpoon gesichtet worden. In der vergangenen Woche munkelte man, Styles habe sich hier eine Immobilie zugelegt. Eine angebliche Nachbarin berichtete, "der Gute" habe sie nach ihrem Handy gefragt, nachdem er sich ausgesperrt hatte. Berlin hat seinen Papst gefunden.
Das ganze Aufsehen um den einstigen Boyband-Veteranen führt zu einer schmerzlichen Offenbarung: Das ach so weltmännische Deutschland, insbesondere deren kulturpolitisches Aushängeschild, die vermeintliche Globalmetropole Berlin, Nabel der Zeit und der westlichen Hemisphäre, ist vielleicht doch nur eine verschlafene Provinz. Nach wahrhaftigen, stadionfüllenden, mit überschlagenen Beinen in Late-Night-Shows-sitzenden Promis sucht man hier vergeblich. Umso größer ist der Aufruhr, wenn sich tatsächlich mal einer hierhin verirrt.
Sicherlich, Lars Eidinger schlendert mal mit zerknautschter Lidl-Tüte durchs Kadewe, eine Handvoll Trash-TV-Sternchen und versprengte Fußballspieler des VfL Wolfsburg wohnen in der Bundeshauptstadt. Aber sonst? Die Zeiten, in denen David Bowie und Iggy Pop in Berlin residierten, liegen in weiter Vergangenheit. Deutschlands vermutlich größter Star Sandra Hüller wohnt in Leipzig und ist hierzulande größtenteils unbekannt.
Deutschland hat sich über Jahrzehnte an den Gedanken gewöhnt, dass echte Stars immer woanders entstehen. Was früher noch in Shows wie "Wetten, dass..?" aufschien, sind heute nur noch die Keynote-Speaker beim OMR-Festival. Die Popkultur der Bundesrepublik hat keine Fließbänder, sondern gelegentliche Ausreißer. Harry Styles wirkt wie ein Alien in einem Land, das kulturell längst entindustrialisiert wurde.
"Berlin ist dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein", hat der Kunstkritiker Karl Scheffler 1910 geschrieben. Mehr Zustand als Ort. Eine Weltanschauung. Und vielleicht ist das der Grund, warum es ausgerechnet Harry Styles ist, der mit seiner Präsenz einem ganzen Land den Kopf verdreht.
2023 war Styles mit seiner "Love On Tour" auf Europatournee. Seitdem hat man bis auf das übliche Gemunkel über mögliche Lebensabschnittsgefährtinnen, seine metronomisch-präzisen Splits beim Japan-Marathon und einen Doppelgänger-Wettbewerb zu seinen Ehren nicht viel mitbekommen. Dabei ist ja einiges passiert.
Harry Styles spricht zu uns aus einer Zeit, in der ein neues Männlichkeitsbild Einzug erhielt, dessen Gallionsfigur Styles war. Da stand er, mit Nagellack, Pride-Flagge und Glitzer-Boa, sprach über Gefühle, über Selbstzweifel, und Nächstenliebe und wurde zur Projektionsfläche für eine Sehnsucht nach empathischer Männlichkeit.
Heute, ein paar Rechtsrucke später, möchte der AfD-Europapolitiker Maximillian Krah Kindern eintrichtern, dass sie Männer seien, keine "nonbinären Einhörner", Andrew Tate und Joe Rogan predigen hypermaskuline Brachialität zum erstrebenswertem Ideal und der reichste Mensch der Welt, Elon Musk, kokettiert damit, sich mit seinen Tech-Kontrahenten im Oktagon die Rübe einzuhämmern.
Mittlerweile hat das toxische Männlichkeitsbild den Zeitgeist des flamboyant-androgynen Harry Styles mit all seinen Idealen wieder in die Vergangenheit geworfen.
Vielleicht lässt sich das aufschäumende Aufsehen also mit einem melancholischen Blick auf die zarte Vergangenheit erklären. Eine Zeit, in der die Hoffnung schwelte, Geschlechterrollen aufzubrechen und aggressive Männlichkeit an den Seitenrand zu drängen. Ein trotziges Festhalten an einem weicheren Weltbild.
Die Konzerte von Harry Styles und sein grübchengesprenkelter Charme versprachen ja vor allem eins: eine große Umarmung. Eigentlich ganz tröstlich.