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"Adolescence": Wahre Bedeutung und Ende erklärt – ist Jamie schuldig?

"Adolescence" zoomt tief in die Psyche eines 13-jährigen Jungen hinein. Mit erschreckenden Erkenntnissen.
"Adolescence" zoomt tief in die Psyche eines 13-jährigen Jungen hinein. Mit erschreckenden Erkenntnissen. Bild: Netflix
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Netflix' "Adolescence": Auf die Schuldfrage gibt es drei Antworten

18.03.2025, 17:08
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Wer von "Adolescence" einen simplen Thriller erwartet, dürfte etwas verstört zurückbleiben, wenn nach über vier Stunden der Abspann läuft. Seit dem 13. März ist die vierteilige Serie auf Netflix verfügbar. Von Lobeshymnen wurde sie begrüßt, als "bahnbrechend" gefeiert.

"Adolescence"-Bedeutung: Männer-Studie getarnt als Thriller

Die komplexe "Adolescence"-Thematik kann gerade in Kombination mit ihrer Machart überfordern. Regisseur Philip Barantini drehte die vier Folgen jeweils ohne sichtbaren Schnitt. Ein bei diesem Stoff quälender Stil, denn: "Adolescence" entwickelt sich im Verlauf seiner Handlung zu einer rauschhaften Expedition in die verkrümmte Seele eines 13-jährigen Jungen.

Hier erhältst du eine Erklärung der verschiedenen Motive und des offenen "Adolescence"-Endes. Entsprechend richtet sich der Artikel an Leser:innen, die die Serie bereits zu Ende geschaut haben.

Überblick: Die Handlung von "Adolescence"

Die Detectives Luke Bascombe und Misha Frank nehmen den 13-jährigen Jamie Miller (Owen Cooper) in dessen Elternhaus fest. Die Beweislage ist erdrückend: Er soll am Abend zuvor seine Mitschülerin Katie erstochen haben. Die Polizisten können den Tathergang präzise rekonstruieren, es existiert ein Video, in dem der Junge auf sein vermeintliches Opfer einschlägt. Jamie beteuert jedoch seine Unschuld. Zudem fehlt den Polizist:innen ein Motiv.

Die Ermittlungen führen an Jamies Schule und von dort zu Instagram. Es stellt sich heraus: Jamie wurde an seiner Schule und im Internet gemobbt. Er wurde als kommender "Incel" gebrandmarkt, unter anderem von der ermordeten Katie. Jamie wird zunächst in eine Psychiatrie eingewiesen und dort von der Psychologin Briony Ariston befragt. Sie lernt Jamie als aggressives Kind kennen, das in seiner frühen Männlichkeit schwer gekränkt wurde, zu extremen Wutausbrüchen neigt und sich nach weiblicher Bestätigung sehnt.

Auch gegenüber der Psychologin gesteht Jamie das Verbrechen nicht. Es vergehen 13 Monate, Jamie wartet in einer Jugendeinrichtung auf seinen Prozess. Die letzte Folge widmet sich den Auswirkungen des Falls auf die Familie Miller, insbesondere den Vater (Stephen Graham). Beide Elternteile fragen sich: Tragen sie Schuld an dem Verbrechen? Bei einem Telefonat erklärt Jamie: Er hat sich umentschieden. Er will bei seinem Prozess auf "schuldig" plädieren.

Im Verlauf dieser Handlung analysiert die Serie das Thema toxische Männlichkeit anhand des "Untersuchungsgegenstands" Jamie Miller. Das beginnt schon beim Titel der Serie.

"Adolescence": Was bedeutet der Netflix-Titel?

Adoleszenz beschreibt die Übergangszeit zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, meist zwischen zehn und 20 Jahren. In dieser Phase entwickeln sich Körper, Gehirn und Persönlichkeit stark. Hormone sorgen für körperliche Veränderungen, während Jugendliche nach Unabhängigkeit suchen, ihre Identität finden und oft mit Emotionen und sozialen Erwartungen kämpfen.

Die These von "Adolescence": Jamie Miller wurde in dieser sensiblen Phase von verschiedenen psychosozialen Faktoren derart negativ beeinflusst, dass er zu einem potenziellen Mörder wurde.

Welche tiefere Bedeutung hat die Serie?

In der Serie fallen Begriffe wie toxische Männlichkeit beziehungsweise toxische Maskulinität. Diese Begriffe werden in Medien, Politik und Popkultur derzeit intensiv diskutiert – auch im Zusammenhang mit gewaltsamen Übergriffen auf Mädchen und Frauen. Die Serie sucht im Wesen von Jamie nach den Ursachen fragiler Männlichkeit und den daraus resultierenden Aggressionen.

Die Rolle des Vaters: Stephen Graham spielt den Vater von Jamie als emotional anwesenden, wenngleich etwas altmodischen Vater. Er ist stark, sportlich begabt, verbringt seine Freizeit mit dem Konsum von Live-Sport in Kneipen. Er hat, wie Jamie, nur männliche Freunde. Und manchmal hat er Wutanfälle, die ihm anschließend peinlich sind.

In der Sitzung mit der Psychologin Briony Ariston (Erin Doherty) schildert Jamie ein Erlebnis mit seinem Vater, das eine Mikroverletzung in seinem Männlichkeitsbild ausgelöst haben könnte: Als Jamie sich beim Fußball blamiert, schaute sein Vater weg. Vielleicht aus Scham, vielleicht, weil er Jamie vor dem Anblick der eigenen Scham schützen wollte.

Die Rolle des schulischen Umfelds: Das Polizist:innen-Duo besucht die Schule von Jamie. Die Lehrkräfte sind hier mit den Heranwachsenden vollkommen überfordert, Mobbing und Gewaltausbrüche sind an der Tagesordnung. Jamie und seine Freunde sind Außenseiter. Ein Zustand, der sich durch Social Media ins Privatleben ausweitet.

Die Rolle von Social Media: Die Detectives erhalten einen Crash-Kurs in Internet-Kultur und kriegen Grundbegriffe aus dem Diskurs über toxische Männlichkeit erklärt: Manosphere, Incel, 80:20-Gesetz, Andrew Tate.

Die Zuschreibung "Incel": Jamie galt als kommender Incel, also unfreiwillig enthaltsamer Mann. Die Incel-Bewegung trägt diese Zuschreibung allerdings in der Regel mit Stolz. Das trifft auf Jamie nicht zu. Er weist den Begriff zurück, versteht ihn vielleicht auch nicht. Wichtig ist: Er verachtet Frauen/Mädchen (noch) nicht, sehnt sich nach ihrer Zuneigung.

Gleichzeitig fühlt er sich von ihnen abgelehnt. Woraufhin er sie, ein Incel-Merkmal, abwertet. Jamie bezeichnet Katie gegenüber der Psychologin etwa als "flachbrüstig", bekundet Desinteresse. Auf die verbale Abwertung folgt der Gewaltausbruch.

Jamie schüchtert seine Psychologin ein.
Jamie schüchtert seine Psychologin ein.Bild: Netflix

Folge drei bildet den Kern der Männlichkeits-Analyse von "Adolescence". Hier zeigt die Serie, welche Wirkung der erst 13-jährige Junge auf die sonst souverän auftretende Psychologin hat. Die Episode findet vollständig in dem Sitzungsraum statt. Das Publikum erlebt die Reaktionen des Jungen auf die Fragen der Psychologin hautnah. Und sieht dabei zwei Jamies:

  • Den sich in seiner unvollständigen Identität windenden Jamie, der sich innerhalb der Werte seiner Erziehung bewegt. Er ist schüchtern, respektiert Erwachsene, weint, knabbert an seinen Fingern, sucht nach Bestätigung. Er will der Psychologin gefallen und sie beeindrucken. Er lügt über seine sexuellen Erfahrungen – und gibt die Unwahrheiten peinlich berührt zu. Dieser Jamie ist fragil.
  • Den jähzornigen, tief verletzten Jamie, der jederzeit explodieren kann. Mehrfach in der Sitzung rastet Jamie aus, baut sich vor der Psychologin auf, bedroht sie, bis ein Polizist eingreifen muss. Nachdem Jamie den Raum verlassen hat, bleibt die zitternde, vollkommen aufgelöste Psychologin zurück. Sie hat ein Monster erlebt. Womöglich eine rohe Version des frauenhassenden, erwachsenen Jamie.

Aber ist dieser zweite Jamie zu einem Mord fähig?

Ist Jamie schuldig? Das bedeutet das offene Ende

Die einfache Antwort: Jamie hat Katie ermordet. Daran besteht nach dem Telefonat in der letzten Folge kein Zweifel mehr. Jamie plädiert auf "schuldig", was kein Geständnis ist, dem aber nahekommt. Der Junge konnte seine Tat womöglich nicht begreifen, leugnete sie vor sich selber. Aber "Adolescence" ist keine "Tatort"-Folge. Hier geht es um mehr als schuldig und unschuldig.

Die zweitschwerste Antwort: Inwiefern ist Jamie für die Tat verantwortlich zu machen? Schule, Internet, Social Media, die Welt an sich trieben Jamie zu seiner Tat. Andererseits: Nicht jeder gemobbte Schüler begeht einen Mord.

Die schwerste Antwort: Niemand? Alle? Darauf scheint zumindest die Serie zu plädieren. Ja, es gibt Programme gegen Mobbing, aber noch immer sind oft selbst Eltern und Lehrer:innen hilflos. Der Zugriff auf Social Media, da sind sich Expert:innen einig, müsste für Jugendliche reguliert werden, aber wie soll das gehen?

Die letzte "Adolescence"-Folge widmet sich den Eltern von Jamie, die sich mit der Frage quälen: Was haben wir falsch gemacht? Das Paar sah dabei zu, wie Jamie sich in seinem Zimmer vergrub, wo Frust und Angst zu Wut und Hass gärten. Das bittere Eingeständnis: sie hätten zumindest mehr tun können. Sie scheinen dabei aber nicht für sich als Eltern, sondern für die gesamte Gesellschaft zu sprechen.

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