Rund zwei Wochen ist es nun her, dass gegen Rammstein-Frontmann Till Lindemann erstmals Anschuldigungen im Zuge der aktuellen Europa-Tour der Band erhoben wurden. Mittlerweile gibt es zwei offizielle Statements der Band, unter anderem wurde auf die Unschuldsvermutung verwiesen. Man nehme die Vorwürfe "außerordentlich ernst". Doch die Schlagzeilen reißen nicht ab.
Am 7. Juni machte die Gruppe um Till Lindemann in München Station, es war das erste von insgesamt vier Konzerten in diesem Jahr in der bayerischen Hauptstadt – und zugleich das erste dieser Tour in Deutschland, bei dem Lindemann unter besonderer Beobachtung steht. Der Verlag "Kiepenheuer und Witsch" beendete jüngst die Zusammenarbeit mit Lindemann, die Drogerie-Kette Rossman verkauft fortan kein Rammstein-Parfum mehr.
Schon vor dem Konzert teilte ein Sprecher des Kreisverwaltungsreferats in München mit, dass es die umstrittene "Row Zero" diesmal nicht geben werde, was der Veranstalter bestätigte.
Was ist die "Row Zero"? Die "nullte" Reihe befindet sich direkt vor der Bühne und ist mit einem VIP-Bereich vergleichbar. Zuvor ausgewählte und handverlesene Fans können die Show von diesem abgetrennten Bereich sehen und posten oftmals Social-Media-Content. Oft nehmen die Zuschauer:innen, die in der "Row Zero" stehen, auch an den Pre- sowie den After-Show-Partys der Band teil.
Dennoch lag auf dem Auftritt ein besonderes Augenmerk: Würde die Band die Anschuldigungen auf der Bühne selbst ansprechen oder womöglich die Setlist ändern? Zuletzt befanden sich unter den performten Songs immerhin "Pussy" oder auch "Du riechst so gut", die angesichts der Vorwürfe noch einmal in einem anderen Licht erscheinen könnten.
Im ausverkauften Olympiastadion wurde schnell deutlich, dass die Band weiterhin extrem viele Fans hinter sich hat. Bevor Lindemann und seine Kollegen gegen 20.30 Uhr die Bühne betraten, schwappte eine La-Ola-Welle durchs Stadion – und das minutenlang.
Dass Rammstein, die seit Jahren größte deutsche Rockband, frenetisch gefeiert wird, ist zwar absolut nicht ungewöhnlich, mit Blick auf die aktuelle Situation wirkt es jedoch wie ein trotziges Statement der Rammstein-Community.
Am frühen Abend war es vor dem Olympiastadion bereits zur Kollision zwischen Demonstrierenden, die sich mit Opfern sexueller Gewalt solidarisieren, und Fans der Band gekommen. Die Protestierenden waren mit Bannern und Megafon ausgestattet. Bei der Gelegenheit wurden Beschimpfungen von beiden Seiten ausgeteilt.
Im Laufe des Tages war schließlich sogar von einer geplanten "Solidaritätsaktion" der Fans mit Till Lindemann die Rede gewesen, die sich bei Social Media organisiert hatte. Demnach war die Idee, am Ende des Konzerts kollektiv den Song "Ohne dich" mit abgeändertem Text ("Ohne euch") anzustimmen und so die besondere Wertschätzung für die Band auszudrücken. Und damit nicht genug: "Wenn sie knien, knien wir mit ihnen", hieß es. Zu beidem kam es jedoch nicht.
Wer spekuliert hatte, Rammstein würden die Vorwürfe während des Auftritts ansprechen, lag ebenso falsch. Überhaupt interagierte die Band verbal fast überhaupt nicht mit dem Publikum, mit einer einzigen Ausnahme. Es wirkte geradezu demütig, als Till Lindemann ganz zum Schluss ins Mikrofon sprach:
Abseits dessen hätte das Konzert vonseiten der Musiker kaum routinierter sein können, Rammstein feuerten buchstäblich gegen die Lindemann-Vorwürfe an und fackelten ihr übliches Effekte-Feuerwerk ab. Ein Highlight ruhigerer Art war die Piano-Version von "Engel" auf einer kleineren Zweitbühne – nach der Performance teilten sich Rammstein auf drei Schlauchboote auf und ließen sich darin von den Fans zurück zur Hauptbühne tragen.
Generell bemerkbar bei Lindemann war allerdings, dass er sich an diesem Abend vor allem in Bezug auf seine teils sexuell aufgeladenen Posen stark zurücknahm.
Die Setlist der aktuellen Tour besteht seit dem zweiten Konzert in Vilnius aus 22 Songs, in München war es jedoch plötzlich einer weniger – und nicht einfach irgendeiner. Die Band strich kurzerhand "Pussy" aus dem Programm. Der Text handelt von zwanglosem Sex und ist, wie der Titel schon vermuten lässt, ziemlich explizit.
Zu einem Skandalsong taugt "Pussy" heute sicher nicht mehr, Zeilen wie "Blitzkrieg mit dem Fleischgewehr" oder "Schnaps im Kopf, du holde Braut" haben speziell unter den derzeitigen Umständen aber einen Beigeschmack. Ob das Lied im Verlauf der Tour zurückkehrt oder jetzt wirklich erst einmal Sendepause hat, bleibt abzuwarten.
In der Vergangenheit war mit "Pussy" auch eine spezielle Einlage verbunden: Lindemann ritt während des Songs auf einer Penis-Kanone und besudelte das Publikum mit Schaum. Das fiel in München somit auch unter den Tisch.
Und was die "Row Zero" betrifft: Der Sänger verschwand in der berüchtigten Pause vor dem Song "Deutschland" nicht unter der Bühne, war nur relativ kurz für einen Outfit-Wechsel weg. Die Ankündigung des Veranstalters bewahrheitete sich.
Viele Rammstein-Texte sind ohnehin mehrdeutig, im Lichte der Vorwürfe gilt das nun sogar für zahlreiche eigentlich harmlose Zeilen. Wenn Lindemann etwa "Ich will, dass ihr mir vertraut" und "Ich will, dass ihr mir glaubt" singt (und es sogar noch betont), lässt sich das auf einmal kaum von den neuesten Schlagzeilen um den Frontmann entkoppeln. Doch irgendetwas müssen sie ja spielen, eine Absage der verbleibenden Shows scheint momentan keine Option zu sein.
Nachtrag der Redaktion: Die Staatsanwaltschaft Berlin hatte im Juni nach den Vorwürfen gegen Till Lindemann Ermittlungen aufgenommen. Diese wurden Ende August eingestellt. Die Auswertung der Beweise habe keinen hinreichenden Tatverdacht ergeben, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Den entsprechenden Artikel findet ihr hier.