Die Situation an deutschen Schulen und Kitas ist auch nach zwei Jahren Pandemie noch immer suboptimal: Es fehlen Luftfilter oder Schutzkonzepte und die ständig neuen Regeln vom Gesundheitsamt sorgen eher für noch mehr Verwirrung als für Sicherheit bei Lehrkräften, Schülerschaft und Eltern.
Mit einer aktuell bundesweiten Inzidenz von fast 1500 wird derzeit eine Durchseuchung der Bevölkerung und vor allem der Kinder und Jugendlichen in Kauf genommen, so das Empfinden vieler Eltern, Schüler und Lehrer. Denn die meisten Kinder sind noch nicht geimpft oder dürfen dies noch gar nicht werden und sind dem Virus deshalb schutzlos ausgesetzt. Schulen und Kitas sind derzeit wegen der vielen Fälle im Ausnahmezustand, ein normaler Betrieb ist aufgrund von Bürokratie und Regelchaos in den meisten Einrichtungen kaum möglich.
Die Schülerinnen und Schüler selbst haben nach zwei Jahren Pandemie die Nase voll von diesem Zustand. Die Schülersprecherinnen und -sprecher drohen unter dem Motto #WirWerdenLaut mit einem Schulstreik, wenn die Politik nichts unternimmt, um die Kinder zu schützen und zu unterstützen.
Eine Petition der Bewegung bei change.org, initiiert vom Berliner Schülersprecher Anjo Genow, erreichte bereits über 137.000 Unterschriften. "Die Politik propagiert, dass Schulen sicher sind. Doch wir erleben genau dort Infektionen. Dieser Widerspruch ist unheimlich frustrierend und belastend", sagte der Berliner Abiturient Anjo Genow (17) in einem Gespräch mit watson. Viele Lehrer sind verbeamtet und dürfen daher nicht streiken – unzufrieden sind aber auch sie.
watson hat sich beim Lehrpersonal in ganz Deutschland umgehört, wie ihr Alltag gerade aussieht und ob ein normaler Unterricht überhaupt noch möglich ist.
Am schlimmsten findet Beate R. (Name v.d.Red. geändert) das Regelchaos. Sie arbeitet als Konrektorin in einer Realschule in Baden-Württemberg und berichtet watson:
Dafür sei die Frist für die Umsetzung der Regeln dann relativ kurzfristig zu bewerkstelligen, beklagt Beate. "Wir werden da bei ganz vielem einfach allein gelassen."
Das sieht auch ein Lehrer aus einer Gesamtschule in Baden-Württemberg als großes Problem. "Die Anweisungen von der Regierung und vom Schulamt, an was man sich halten muss und was das heißt, sind immer sehr vage", sagt Thorsten S. (Name v.d. Red. geändert) im Gespräch mit watson. Deshalb gäbe es immer sehr unterschiedliche Auslegungen in den einzelnen Schulen, weil von oben klare Anweisungen fehlten. "Es ist halt alles so widersprüchlich und man bekommt keine klaren Anweisungen."
Als Beispiel erzählt Thorsten von einem Schreiben in den letzten Sommerferien "mit der Frage, ob man die letzten Tage vor dem Schulstart noch in einem Hochrisikogebiet war." Die Bestätigung, dass der jeweilige Schüler oder die Schülerin nicht in einem Hochrisikogebiet war, mussten diese von den Eltern unterschreiben lassen und den Lehrkräften zeigen, um den Unterricht besuchen zu dürfen.
Was in dem Schreiben unklar geblieben sei: Was, wenn der Schüler wirklich in einem Risikogebiet war? "Was macht man dann? Kriegt der dann eine Woche Schulausschluss oder muss er einen Tag warten oder was muss ich machen?", fragt Thorsten.
Mit diesen Fragen werden die Schulen allein gelassen. Den Lehrer stört, dass solche Regelungen nie ganz zu Ende gedacht scheinen: "Das heißt von oben: Macht das, das und das. Aber was dann die Konsequenz daraus ist, damit wird jeder ein bisschen alleine gelassen in der Schule."
So wie dieses Schreiben machten viele Regelungen zum Schutz vor Corona keinen Sinn, erzählen die Lehrer. Durch die Überlastung der Testzentren und des Gesundheitsamts sowie den Datenschutzvorgaben ergibt sich ein weiteres Problem: Da viele Schülerinnen und Schüler ihren PCR-Bescheid erst sehr spät bekommen, kann es sein, dass sie von ihrem positiven Testergebnis zu einem Zeitpunkt erfahren, an dem ihre Quarantäne schon fast wieder vorbei ist.
So etwas kennt der Realschullehrer Thorsten aus dem Schulalltag nur zu gut. Er berichtet von einem besonders absurden Fall, als einer seiner Schüler sich wegen eines positiven Schnelltests an einem Freitag noch PCR-testen lassen musste. Doch da er drei oder vier Tage auf sein Testergebnis warten musste, kam er weiterhin in die Schule. "Das Gesundheitsamt habe ihn nicht gleich erreicht, hieß es." Erst ab Mittwoch, als er seinen Bescheid erhielt, war der Schüler in Quarantäne. Am Donnerstag fehlten daraufhin 17 von 20 Schülern, da es ihnen frei stünde, bei einem positiven Test eines Mitschülers, nicht in die Schule zu kommen.
Eine Nachfrage im Sekretariat ergab, dass der Test schon letzte Woche am Freitag gemacht wurde. "Das heißt, nach einer Woche konnte er rein rechtlich wieder kommen, weil er den Bescheid einfach nur verspätet bekommen hat", sagt Thorsten bei watson. "Das absolute Highlight war aber, dass die 17 anderen Schüler, die wegen ihm angeblich zu Hause waren, natürlich nicht da waren. Das heißt der Positive – der zum Zeitpunkt schon nicht mehr positiv war – war da und alle anderen nicht."
Solche chaotischen Zustände entstehen, da das Gesundheitsamt wegen datenschutzrechtlicher Gründe nicht direkt der Schule den PCR-Bescheid übermittelt, sondern den Schülerinnen und Schülern selbst. Bis das Testergebnis da ist, dürften auch die Mitschüler nicht offiziell gewarnt werden – gerade für Kinder mit Vorerkrankungen eine Gefahr, die sie davon abhält, die Schule zu besuchen.
Diese Unsicherheit ist nun scheinbar vorbei, zumindest in Baden-Württemberg. "Letzte Woche Freitag kam die Info, dass man die Eltern informieren soll, wenn es in der Klasse einen positiven Schnelltest gab. Das gab es vorher nicht. Wobei das natürlich anonym sein muss", sagt die Konrektorin Beate. Davor durfte erst beim positiven PCR-Bescheid Bescheid gegeben werden.
Die Schule ist zudem davon abhängig, dass der Schüler seinen PCR-Test selbst vorzeigt oder wahrheitsgemäß Auskunft gibt. "Da muss man dann wieder den Schülern hinterhertelefonieren", sagt die Konrektorin.
In Corona-Zeiten bestehe ihre Aufgabe überhaupt aus sehr viel Telefonieren: "Es ist wirklich sehr häufig sehr viel Telefonieren oder Nachfragen. Das geht los beim positiven Schnelltest, weil wir versuchen, die Eltern zu erreichen", sagt Beate im Gespräch mit watson. Weiter geht es damit, wegen des Ergebnisses des PCR-Tests hinterher zu telefonieren. "Und wir müssen jeden positiven Schnelltest dem Gesundheitsamt melden."
Auch Thorsten versteht nicht, warum die gesamte Bürokratie immer über die Schulleiter abgewickelt wird:
Trotz der neuen Quarantäne-Regelung in den meisten Bundesländern, die besagt, dass sich die Klasse bei einem positiven Fall an fünf Tagen nacheinander testen muss statt zu Hause zu bleiben, bleiben die meisten Schulklassen gerade ziemlich leer.
Die Durchseuchung ist in vollem Gange: "Bei mir fehlt gerade circa die Hälfte der Klasse", sagt Realschullehrer Thorsten. "Sie haben aber nicht alle Corona. Das Problem ist, dass die Schüler mittlerweile auch Zuhause bleiben müssen, wenn es im Haushalt einen positiven Fall gibt."
Auch Ann-Kathrin W. (Name v.d.Red. geändert), eine Grundschullehrerin aus Baden-Württemberg, berichtet im Gespräch mit watson: "Es ist einfach gerade täglich irgendwas. Ich habe vorher gelesen, dass heute wieder zwei Kinder abgeholt werden mussten, weil sie einen positiven Schnelltest hatten. Und so geht es quasi bei uns täglich, jeden Tag kriegt man Updates, welche Klassen gerade in der fünf-Tages-Regelung sind, weil ein Kind positiv ist."
Viele Regelungen sorgen bei den Lehrern und Lehrerinnen für Unverständnis, da sie nicht sinnvoll seien. Beispielsweise sei Kontaktsport verboten, bei einem positiven Fall auch Sportunterricht generell, "aber in den Pausen kicken die Schüler schon auch draußen. Diese vielen Regeln, die teilweise einfach wenig Sinn ergeben, sind schon eine Herausforderung", berichtet Thorsten im Gespräch mit watson.
Seiner Meinung nach, sei es fast unmöglich, die Gruppen richtig zu trennen. "Sobald die Schüler vor den Türen stehen, ist ja klar, dass sich dann auch mal ein Neuntklässler mit dem Zehntklässler unterhält, vor allem wenn sie befreundet sind oder Geschwister."
Zumindest in der Schule der Konrektorin Beate werden die Regeln hier sehr streng genommen: "Das wird aber mittlerweile sehr unterschiedlich von den Schulen gehandhabt, denn man kann die Verordnung so oder so interpretieren." Doch so fallen viele Unterrichtsstunden wie Religion seit Corona fast permanent aus, denn "entweder ist mal die Klasse-A-Kohorte oder mal die Klasse B oder C betroffen oder dann ist der Lehrer in Quarantäne."
Die Pausenaufsicht ist wegen der Kohortenregelung ebenfalls herausfordernd. In Beates Realschule gibt es keine gemeinsame Pause mehr, sondern zeitversetzt – auch, um nicht so viele Lehrkräfte gleichzeitig im Lehrerzimmer zu haben. "Was aber für die Organisation schwierig ist, beispielsweise müssten die Zeitschienen der Stundenpläne ganz anders sein. Auch da hat man irgendwie von Anfang an keine Unterstützung bekommen", erzählt sie.
Außerdem benötigt die Kohortenregelung mehr Personal, das ohnehin derzeit wegen Krankheit und Quarantäne dauernd knapp ist. "Das sind einfach acht, neun Klassen, die in den Pausen noch zusätzlich beaufsichtigt werden müssen. Das sorgt an allen Ecken und Enden für Frustration."
Die Grundschullehrerin Ann-Kathrin stellt fest: "So langsam muss ich sagen, sind schon echt viele genervt. Vielleicht auch sogar ein bisschen am Limit."
Den Lehrern selbst fällt es auch schwer, wenn sie Kinder ständig maßregeln müssen, sie zu ermahnen, die Masken zu tragen und ihnen zu verbieten, miteinander zu spielen. Ann-Kathrin erzählt von ihrer Grundschule:
Normalerweise spielen die Klassenstufen in der Pause miteinander, wenn es aber einen positiven Fall in der Klasse gibt, müsse man die nochmal in ihre Kohorten trennen, also beispielsweise nach Eins A und Eins B "und dann haben die teilweise halt auch nur einen ganz kleinen Bereich zum Spielen, weil so groß ist der Pausenhof ja dann auch nicht".
Die Lehrerinnen und Lehrer berichten jedoch alle, wie gefasst und professionell selbst die kleinsten Kinder die Corona-Abläufe wie Testabstrich, Desinfektion und Abstandhalten inzwischen meistern.
Hannah C., eine Lehrerin aus Bayern, stellt, neben verpasstem Lernstoff und fehlenden Leistungsnachweisen, auch fest, dass es den Schülern nicht guttut, solange ohne die Klassenkameradinnen und -kameraden zu sein.
Ganz extrem sei jedoch, wie sich die Schüler sich in ihrem Sozialverhalten verändert haben: "Es ist, als ob sich die Pubertät der Schüler durch Corona verschoben hat. Die Zehntklässler verhalten sich teilweise wie die aus der siebten oder achten Klasse. Es scheint fast, als ob sie auch in ihrer Entwicklung ein Jahr verpasst haben. Das ist schon auffällig."
Unter der Pandemie leiden Lehrer und Schüler gemeinsam. Doch den Lehrern bleibt nicht anderes übrig, als die Regeln zu befolgen – und zu hoffen, dass sie nicht wieder in den Distanz- oder Hybridunterricht müssen. Denn der war laut Thorsten "totaler Bullshit."