"Die Entscheidung der Politik, erst am 28. Dezember strengere Corona-Maßnahmen zu fahren, ist nur noch zum Kopfschütteln." Mit diesen Worten kommentiert der bekannte Intensivpfleger Ricardo Lange die Entschlüsse des jüngsten Corona-Gipfels gegenüber watson. Diese Reaktion dürften angesichts der sich ausbreitenden Coronavirus-Variante Omikron viele Menschen mit ihm teilen.
Bundeskanzler Olaf Scholz, NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst und die neu gewählte Berliner Bürgermeisterin Franziska Giffey verkündeten am Dienstagabend das weitere Vorgehen im Kampf gegen Corona. Die entsprechende Beschlussvorlage war bereits im Voraus publik geworden und sieht unter anderem deutliche Kontaktbeschränkungen erstmals auch für Geimpfte und Genesene ab dem 28. Dezember vor.
Watson hat angesichts der harten Kritik, die es für die als zu schwach wahrgenommenen Maßnahmen der Regierung aktuell hagelt, mit Intensivpfleger Ricardo Lange, dem Epidemiologen Markus Scholz, Ingrid Hartges vom Gaststättenverband DEHOGA und der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) gesprochen.
"Nur noch zum Kopfschütteln" findet der Berliner Intensivpfleger Ricardo Lange jedoch nicht nur die Beschlüsse, sondern auch das Ignorieren der Forderungen des Robert-Koch-Instituts (RKI). Dieses veröffentlichte kurz vor Beginn der Bund-Länder-Runde ein dreiseitiges Forderungs-Papier, in dem deutlich strengere Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Omikron-Variante gefordert werden.
Ricardo Lange zählt seit Beginn der Corona-Pandemie zu den bekanntesten Stimmen der Pflege. Der 40-jährige Intensivpfleger aus Berlin setzt sich über Social Media für die Arbeitsbedingungen in der Pflege ein. Eine zentrale Forderung Langes ist die Aufstockung des Klinikpersonals. In diesem Zuge war er im April bereits zu Gast in der Bundespressekonferenz und ist seitdem auch regelmäßig in Talkshows zu sehen.
Der Intensivpfleger findet problematisch, dass die politischen Maßnahmen keiner klaren Linie folgen.
Für dieses Vorgehen findet er deutliche Worte: "Es ist nur frustrierend und mit gesundem Menschenverstand nicht mehr zu erklären." Resigniert fügt Ricardo Lange hinzu: "Mein Haus lösche ich ja auch nicht erst vier Tage, nachdem der Brand begonnen hat…"
Den grundsätzlichen Forderungen Langes kann die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) nur zustimmen, zu den aktuellen Beschlüssen wollte sie sich jedoch nicht äußern. Auf watson-Anfrage teilt ein Sprecher der Vereinigung mit:
Ein weiterer Punkt in den Beschlüssen von Bund und Ländern ist die Schließung von Clubs und Diskotheken. Bars und Restaurants dürfen jedoch geöffnet bleiben. Das sorgt nicht nur bei den jüngeren Menschen für Verwunderung, auch Prof. Dr. Markus Scholz, Epidemiologe an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig, sieht keinen "großen Unterschied zwischen den genannten Lokalitäten".
Für das neue Jahr gibt der Epidemiologe gegenüber watson ein pessimistisches Urteil ab: Er geht davon aus, "dass im Januar massive Kontakteinschränkungen in allen Bereichen notwendig sein werden, um die Omikron-Welle zu brechen."
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach wurde während der Pressekonferenz am Mittwoch mit RKI-Chef Lothar Wieler und dem Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen von watson-Politikredakteur Sebastian Heinrich auf die Unterscheidung zwischen geschlossenen Clubs und Diskotheken auf der einen Seite und offenen Bars und Restaurants auf der anderen Seite angesprochen.
Der SPD-Politiker begründet diese Unterscheidung der Politik mit der Anzahl an Zusammenkünften von Menschen. "Es kommt immer darauf an, was im Vordergrund des Betriebs steht – also ob das große Tanzgelegenheiten sind, bei denen zum Teil 150 oder 200 Menschen zusammengekommen sind, oder in Innenräumen 50", erklärt er. Diese Art von Zusammenkünften, und damit meint der SPD-Politiker das Feiern in Clubs, seien "sehr stark eingeschränkt" worden.
Im Gegensatz dazu hätte "die Gastronomie, bei der der Verzehr im Vordergrund steht", "von den pandemischen Herausforderungen nicht genau diese Bedeutung." Selbstverständlich sei dies aber etwas, "das man im Blick haben muss", betont Lauterbach weiter.
Zwar dürfen Restaurants und Bars auch nach dem 28. Dezember laut den aktuellen Beschlüssen der Regierung im Kampf gegen Corona öffnen, doch weitreichende Kontaktbeschränkungen auch für Geimpfte und Genesene sollen die Menschen dazu bewegen, zu Hause zu bleiben. Lohnt es sich für Restaurants dann überhaupt zu öffnen?
Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (DEHOGA) erachtet die Maßnahmen der Regierung als richtig. Denn laut der Hauptgeschäftsführerin des DEHOGA Bundesverbandes, Ingrid Hartges, kann "die Politik rein präventiv keine so weitreichenden Grundrechtseinschränkungen vornehmen, wie zum Beispiel Betriebsschließungen." Da die Zahl gemeldeter Infektionen seit drei Wochen zurückgehe, müssten alle Maßnahmen "verhältnismäßig und damit verfassungskonform" sein, betont Hartges gegenüber watson. Sie fügt hinzu: "Hotels und Restaurants waren zu keiner Zeit Treiber der Pandemie."
Wichtig ist das Offenhalten der Restaurants und Bars auch in finanzieller Sicht. Denn laut einer DEHOGA-Umfrage vom 17. Dezember lagen die Umsätze der Gastronomie "bereits Mitte Dezember insbesondere wegen der verschärften Zugangsregeln 2G und 2G Plus durchschnittlich um fast 60 Prozent unter den Dezemberumsätzen des Vorkrisenjahres 2019", teilt Hartges mit.
Ohnehin werde es "für viele gastgewerbliche Betriebe aufgrund der geltenden Corona-Maßnahmen immer schwerer, wirtschaftlich zu arbeiten." Die Forderung an die Politik: "Die Unternehmer, Mitarbeiter und Gäste benötigen jetzt Planungssicherheit für die Festtage."