Im Jahr 2017 begannen Annas Schmerzen im Knie – harmlos wirkend, doch mit schwerwiegenden Folgen. Was zunächst mit einer einfachen Kniespiegelung aufgrund der Schmerzen begann, entwickelte sich zu einer medizinischen Reise mit monatelangen Krankenhausaufenthalten dank zwei multiresistenter Krankenhauskeimen. Kein Antibiotikum hilft, Annas Bein wird langsam steif und auch die Operationen versprechen keine Besserung der Situation.
Immer wieder musste sie monatelang stationär behandelt werden, ihr Bein versteifte zunehmend, ein normales Leben rückte in weite Ferne. Nach über 30 Operationen und Jahren voller Schmerzen trifft Anna 2021 eine mutige Entscheidung: Sie lässt ihr Bein amputieren.
Wie es ihr seit der Amputation ergangen ist und wieso diese ihr Leben verändert hat, erzählt sie im Interview mit watson.
watson: Du hast mit Social Media im Krankenhaus angefangen – war das eine bewusste Entscheidung mit dem Influencerinnen-Dasein?
Anna Osicki: Gar nicht. Ich habe einfach ein Video aus dem Krankenhaus gepostet, das dann über Nacht viral ging. Ich hätte nie gedacht, dass meine Geschichte so etwas auslösen kann.
Nervt es dich manchmal, wenn Leute dich ständig als "inspirierend" bezeichnen – auch bei ganz normalen Alltagsinhalten?
Nein. Ich habe mich bewusst entschieden, meine Geschichte zu zeigen. Und ich weiß, wie viel Zuspruch bedeutet – besonders auf Social Media.
Was würdest du Menschen raten, die ähnliche Herausforderungen erleben?
Hört nicht auf andere. Trefft Entscheidungen, mit denen ihr selbst im Spiegel sagen könnt: "Ich bin glücklich." Viele rieten mir von der Amputation ab, aber das war die beste Entscheidung meines Lebens.
Wie hat sich dein Leben seit der Amputation verändert?
Um 180 Grad! Ich bin viel freier, kann wieder das tun, worauf ich Lust habe. Ich bin auch viel positiver und offener fürs Leben geworden. Früher hätte ich niemals Bungee-Jumping gemacht – heute sage ich sofort ja. Meine ganze Lebenseinstellung hat sich komplett verändert.
Hast du also schon mal Bungee-Jumping gemacht?
Neee, noch nicht! (lacht)
Gab es trotzdem Momente, in denen du an deiner Entscheidung gezweifelt hast?
Ehrlich gesagt, nein. Es klingt komisch, aber weil es meine bewusste Entscheidung war, hatte ich Zeit, mich darauf vorzubereiten. Natürlich gibt es Momente, wo man genervt ist, etwa wenn die Prothese mal wieder nicht passt. Da wird einem dann bewusst, wie abhängig man davon ist. Das kann schon traurig machen. Aber grundsätzlich bin ich sehr positiv eingestellt.
Gibt es im Alltag Probleme mit der Prothese?
Schuhe sind eine Katastrophe! Gerade im Sommer: Offene Schuhe und Prothesen, das ist schwierig. Alle, die eine Prothese oder Orthese tragen, kennen das Problem.
Du stylst deine Prothese ja oft – wünschst du dir da mehr Individualisierung von außen, etwa durch Designer:innen?
Es gibt mittlerweile sogenannte Covers für Prothesen, aber viel zu wenige. Und rechtlich darf ich meine Prothese gar nicht bekleben, denn wenn zum Beispiel ein Glitzerstein ins Gelenk kommt, wäre das ein Versicherungsproblem. Trotzdem mache ich es, weil es zu mir gehört. Für mich ist es wie ein Accessoire, das ich täglich trage.
Was war die bewegendste Nachricht, die du je von einer Person bekommen hast?
Eine Arzthelferin schrieb mir mal, dass ein älterer Mann regelmäßig mit Rollstuhl kam und seine Prothese nie tragen wollte, weil es ihm unangenehm war. Irgendwann hat sie ihm eines meiner Videos gezeigt und er kam das nächste Mal stolz mit Prothese in die Praxis. Das hat mich total berührt.
Bekommst du auch negative Kommentare?
Sehr selten. Es kommt alle paar Monate mal ein unüberlegter Kommentar. Aber ich antworte meistens freundlich und bekomme dann fast immer eine positive Reaktion zurück.
Was sind das für Kommentare?
Neulich meinte jemand: "Manche sparen für ein Auto, andere sollten halt für eine Sportprothese sparen." Das finde ich problematisch. Warum ist Joggen ein Luxus? Nur weil es jemand ohne Hilfsmittel kann und ein anderer nicht? Sportprothesen werden nämlich nicht von der Krankenkasse übernommen und kosten enorm viel Geld.
Thema Fetischisierung im Internet – leider ein reales Problem. Bist du davon betroffen?
Ja, leider. Ich bin auf allen möglichen Fetischseiten zu finden – vor allem, wenn ich meine Prothese nicht anhabe. Vor der Amputation wurde mir sogar geraten: "Zeig dich nie mit Stumpf!" Aber ich lasse mich davon nicht einschränken.
Bist du juristisch dagegen vorgegangen?
Einmal war ich wegen einer Situation bei der Polizei, aber es wurde fallen gelassen. Wenn ich gegen alles vorgehen würde, hätte ich keine Zeit mehr für irgendwas anderes. Ich habe für mich entschieden: Ich bin glücklich mit mir – und das zählt.
Wie siehst du die Darstellung von Menschen mit Behinderung in den Medien?
Es wird besser. Gerade bei größeren Produktionen wird heute mehr Wert auf Inklusion gelegt. Aber da ist noch Luft nach oben.
Hast du das Gefühl, bei manchen Events bist du nur "die Erfüllung der Diversität-Checkliste"?
Ja, gerade bei Inklusionsveranstaltungen merkt man das manchmal.
Findest du, dass Body Positivity oder Inklusionsbewegungen Menschen mit Behinderung oft außen vor lassen?
Ja. Es geht viel um Gewicht, Sexualität und andere Dinge – was auch wichtig ist. Aber Behinderungen werden fast nie thematisiert.
Gibt es auch Neid oder Konkurrenz innerhalb der Influencer-Szene von Menschen mit Behinderung?
Leider ja. Oft wird verglichen: "Warum kann sie nach drei Wochen laufen, ich aber nicht?" – und das teilweise sogar öffentlich. Das finde ich persönlich ganz schlimm.
Was nervt dich mehr: Mitleid oder übertriebenes Lob?
Definitiv Mitleid. Viele denken, ich bin unglücklich – nur weil mir ein Bein fehlt. Aber ich bin sehr glücklich. Ich hatte sogar mal eine ältere Dame, die mir auf der Straße Geld zustecken wollte …
Wie bist du damit umgegangen?
Ich habe versucht, ihr zu erklären, dass es mir gut geht – aber sie hat es nicht verstanden und mich verfolgt, bis ich das Geld angenommen habe. Es war kurios.
Gibt es einen Unterschied zwischen deinem Auftreten auf Instagram und dem echten Leben?
Die Leute sagen eher: In echt bist du noch herzlicher, noch offener. Das ist schön zu hören.
Was ist dein allgemeiner Rat, den du anderen immer gerne mitgibst?
Vergleicht euch nicht – besonders nicht auf Social Media. Folgt nur den Menschen, die euch ein gutes Gefühl geben. Das kann viel verändern.