Watson: Ricky, du hast drei Kinder, bist verheiratet, baust gerade einen Hof um, um inklusiven Urlaub anzubieten, arbeitest nebenbei – und lebst mit Multipler Sklerose. Wie schaffst du das alles?
Ricky: Das ist natürlich eine ganze Menge und mein Leben ist voll – manchmal vielleicht ein bisschen zu voll. Aber ich war schon immer ein sehr aktiver Mensch, hatte immer diesen inneren Antrieb, viel zu machen und mich zu bewegen. Was dabei ganz wichtig ist: Ohne meine Frau würde das alles nicht funktionieren. Sie übernimmt unglaublich viel, wenn es um die Planung unserer Projekte und den Alltag mit den Kindern geht. Wir sind ein richtig gutes Team. Und ich bin gläubig, das ist ein großes Thema für mich. Meditation, Gebet und der Gedanke, dass Gott einen guten Plan für mich hat, sind feste Bestandteile meines Alltags.
Lass uns einmal auf die Anfangszeit zurückblicken – du hast mit 25 die Diagnose MS bekommen. Was waren damals die ersten Anzeichen, und wie bist du damit umgegangen?
Am Anfang habe ich das Ganze eher verdrängt. Ich wollte mich damit nicht wirklich auseinandersetzen, dachte auch, es ist schon nicht so schlimm. Es fing damit an, dass mir nach längeren Radtouren, so nach 40 Kilometern, die Beine zitterten. Dann dachte ich mir einfach: "Na gut, dann fahr’ ich halt nur 35 Kilometer." So hab’ ich es mir irgendwie immer zurechtgelegt. Ich konnte ja noch arbeiten, also war für mich alles okay – zumindest hab ich mir das eingeredet. Irgendwann konnte ich aber nicht mehr verstecken, dass mein Gang nicht mehr so sicher ist. Als die Einschränkungen im Alltag spürbarer wurden, habe ich es auch auf der Arbeit gesagt. Dort habe ich viel Unterstützung und Verständnis erfahren.
MS wird ja vor allem medikamentös behandelt. Wie ist das bei dir aktuell?
Ja, das stimmt grundsätzlich. Ich nehme aber aktuell keine Medikamente mehr als Therapie, sondern nur noch gegen die Symptome. Das Therapeutikum hat dafür gesorgt, dass ich oft krank war, das ist bei vielen MS-Patient:innen so. Außerdem ist meine MS aktuell auf einem stabilen Niveau. Klar, es gibt gute und schlechte Tage, aber im Großen und Ganzen habe ich das Gefühl, dass es sich nicht verschlechtert. Und ich nutze mehrmals die Woche einen speziellen Anzug, der gezielt meine Muskelgruppen stimuliert, in denen ich Spastiken habe. Dadurch sind diese besser geworden.
Kannst du erklären, wie das funktioniert?
Ja, der sogenannte Exopulse Suit ist tatsächlich etwas Neues. Er sieht aus wie ein Neoprenanzug – kürzlich hat das Nachbarskind mich darin gesehen und gefragt, ob ich baden gehe – und ist mit Elektroden ausgestattet. Bewegung funktioniert ja durch Spannung und Entspannung der Muskulatur, dieser Prozess verschlechtert sich durch die MS. Der Anzug stimuliert durch elektrische Signale die gegenteiligen Muskelgruppen, also beispielsweise den Trizeps, wenn man im Bizeps Spastiken hat, und danach sind die Bewegungsabläufe wieder flüssiger und gezielter.
Und das macht dich wieder mobiler im Alltag?
Ja, definitiv. Ich brauche zwar einen Rollstuhl, vor allem wenn es schnell gehen muss. Aber in der Wohnung kann ich mich manchmal mit Hilfen oder einem Rollator bewegen, ich kann an meiner Werkbank stehen und an meinen Sachen basteln und bauen. Auch so Kleinigkeiten wie die Spülmaschine ausräumen – das geht dann wieder.
Du wohnst auf einem großen Bauernhof, den du gerade teilweise umbaust, damit dort inklusiver Urlaub möglich wird. Was genau ist geplant?
Ja, wir haben hier schon viel umgebaut – ich sitze gerade in unserer neuen Wohnung, die war mal eine Scheune. Unsere Vision ist es, auf dem Hof ein Urlaubsziel für Menschen mit Behinderungen zu schaffen – zum Beispiel barrierefreie Tiny Houses oder Ferienwohnungen mit rollstuhlgerechten Badezimmern, ebenerdigem Zugang, einfach allem, was man für einen entspannten Aufenthalt braucht. Aber ich denke auch weiter: Vielleicht könnte man hier auch Hilfsmittel ausprobieren, wie Offroad-Fahrräder oder andere Unterstützungsangebote. Ideen habe ich viele. Jetzt schauen wir einfach, was sich umsetzen lässt. Ich glaube aber, dass die Nachfrage auf jeden Fall da ist.
Mit einer Behinderung oder Erkrankung Urlaub zu machen, ist wahrscheinlich auch gar nicht so einfach.
Ja, ich mache selbst gerne Urlaub und treffe dabei auch andere Menschen im Rollstuhl. Im Austausch mit ihnen wird immer wieder deutlich, dass es viele Hürden gibt. Wir haben den Platz und das Land hier, ich kenne mich mittlerweile mit dem Thema aus und finde es auch cool, mit Leuten in Kontakt zu kommen, denen es ähnlich geht und ihnen hier eine Urlaubsmöglichkeit zu schaffen.
Du kennst durch deine Geschichte beide Seiten – das Leben als gesunder Mensch und jetzt als jemand, der auf Hilfe angewiesen ist. Gibt es etwas, das du dir von der nichtbehinderten Mehrheitsgesellschaft wünschen würdest?
Ich glaube, es wäre gut, wenn sich die Gesellschaft mehr Gedanken macht – über Barrieren, über Mitmenschlichkeit. Ich habe zum Beispiel lange gebraucht, um selbst Hilfe annehmen zu können. Anfangs wollte ich niemandem zur Last fallen, habe die Diagnose für mich behalten und einfach weitergemacht. Aber irgendwann geht das nicht mehr. Kürzlich hat mir eine fremde Frau geholfen, wieder in meinen Rollstuhl zu kommen – da war ich sehr dankbar, dass sie so aufmerksam war und mir Hilfe angeboten hat. Ich habe, was das angeht, schon viele wirklich gute Erfahrungen gemacht. Aber manche Menschen starren wirklich sehr auffällig. Das könnte gerne weniger sein (lacht).
Hilfe annehmen ist in solchen Momenten bestimmt nicht leicht.
Ja, das war ein Lernprozess. Manchmal merke ich es heute noch: Wenn meine Frau mir zum Beispiel beim Schuheanziehen helfen will, bin ich im ersten Moment genervt. Aber dann frage ich mich selbst: "Was will ich eigentlich?" Wenn ich Hilfe brauche, muss ich sie auch zulassen. Es ist besser geworden – aber es ist ein Weg.
Gibt es noch andere Dinge, in denen du dich durch die MS neu kennengelernt hast?
Ja, auf jeden Fall. Ich habe zum Beispiel gelernt, mich selbst nicht nur über Leistung zu definieren. Früher war ich sehr zielstrebig, wollte immer höher, weiter und schneller sein. Ich spiele mit meinem Sohn immer wieder Basketball, er zu Fuß und ich im Rollstuhl, langsam zieht er mir davon und ich kann mich natürlich körperlich auch nicht mit anderen Männern in meinem Alter messen. Heute weiß ich aber: Es reicht, einfach da zu sein. Jeder Mensch hat seinen individuellen Wert – nicht nur durch seinen Job oder seine Produktivität. Klar, im Arbeitsleben zählt Leistung, aber im Leben zählt mehr.
Wie geht ihr mit dem Thema MS innerhalb der Familie und euren drei Kindern um?
Die Kinder wachsen da ganz natürlich hinein. Sie wissen, wie sie mir helfen können und sie tun das auch gern. Sie wissen beispielsweise, wie meine Hilfsmittel funktionieren und wie wichtig die für mich sind. Natürlich fährt mein Sohn auch mal im Rollstuhl rum, das gehört dazu, aber er kann mir den auch ins Auto ein- und ausladen. Sie sind unglaublich empathisch und gehen damit ganz offen um.