Obwohl Stress als Volkskrankheit gilt, ist er ein Mysterium. Eva Peters hat ihn in ihrer Rolle als Wissenschaftlerin, Ärztin und Psychotherapeutin umfassend untersucht.
Sie ist Leiterin eines eigenen Labors an der Klinik für Psychosomatik der Justus-Liebig-Universität in Gießen und hat gerade ihr neues Buch herausgebracht: Es heißt "Stress verstehen. Wenn Körper und Psyche Alarm schlagen". Im Interview mit watson erklärt sie, was mit uns bei Stress passiert, wann er problematisch wird – und wie wir ihn unter Kontrolle bekommen.
watson: Kaffee, Alkohol, Kippen und Pillen: Für den Konsum von Substanzen aller Art zeigen Sie in Ihrem Buch Verständnis. Diese sind aber doch für unseren natürlichen Umgang mit Stress nicht gut, oder?
Eva Peters: Der erhobene Zeigefinger hat noch niemandem therapeutisch geholfen. Die Mediziner:innen, die ich jedes Jahr unterrichte, sagen alle: "Ich will kranken Menschen helfen." Dann frage ich aber: "Wer raucht, trinkt gelegentlich mal zu viel oder hängt zu lange am Handy, sodass er zu wenig schläft?" Fast alle zeigen auf. Wenn wir selbst derlei Dinge also nicht lassen können, wie können wir es von den Patient:innen erwarten? Statt zu verteufeln, sollten wir sie wertfrei behandeln.
Dennoch warnen Sie in Ihrem Buch recht alarmistisch davor, dass Stress "dramatische" Folgen haben kann, etwa das Absterben von Nervenfasern und Zellen. Zitat: "Einmal kaputt, immer kaputt."
Ich war beim Schreiben im Konflikt mit mir selbst: An manchen Stellen drohen die Leser abgeschreckt zu werden und zu sagen: "Oh weia, dann ist es jetzt zu spät." Es ist aber nie zu spät.
Zu spät wofür?
Natürlich werden wir nie wieder 16 sein und wenn eine Wunde heilt, bleibt oft eine Narbe. Aber wenn sich etwas verändert, können wir lernen, uns und unseren Körper in diesem Leben einzurichten.
Worauf genau? Was ist Stress eigentlich fernab von einem Mix aus Cortisol und Adrenalin?
Stress ist ein Mix aus biologischen, psychischen und sozialen Reaktionsmustern. Häufig kann man seine Symptome anhand einer Skala von 0 bis 10 einschätzen: Eine 0 ist, wenn ich morgens erholt aufwache, mich gerne bewege, mich gut ernähre, in einer glücklichen Beziehung bin und Dinge schaffe. Bei einer 10 schaffe ich es nicht aus dem Bett, schaffe den nächsten Anruf nicht, habe das Gefühl, nichts unter Kontrolle zu haben.
Und zwischen 0 und 10, ab wann wird es da kritisch?
Stress wird für mich dann kritisch, wenn die Skala über eine 5 hinaus geht. Dann greifen meine eigenen Werkzeuge nicht mehr: Ich habe Entspannungstechniken, aber sie helfen plötzlich nicht mehr; oder ich habe einen guten Partner, aber ich streite, obwohl ich das nicht will.
Viele machen sich in so einem Zustand auch Sorgen darüber, wie lange sie wohl zur Erholung brauchen.
Nach Stressphasen dauert Regeneration manchmal lange. Bei Burnout kann es auch mal Monate dauern, bis man sich Schritt für Schritt wieder herausarbeitet. Es braucht Geduld. Der erste Schritt ist aber immer zu sagen: "Ich brauche Hilfe." Und das ist zutiefst menschlich.
Ihr wichtigster Rat im Buch ist, sich professionelle Hilfe zu suchen. Therapieplätze gibt es hierzulande aber auch nicht immer sofort.
Die Angst, keine Hilfe zu finden, hält viele davon ab, überhaupt nach ihr zu suchen. Dabei ist die Versorgungssituation bei Therapeut:innen in Deutschland eigentlich gut. Erstgespräche sind meist schnell möglich und oft schon hilfreich.
Nach einem Erstgespräch kann es aber lange dauern, bis man einen richtigen Therapieplatz bekommt.
In der Übergangszeit bis zu einem Therapieplatz kann ich an kleinen Stellschrauben drehen: Ernährung, Bewegung, Schlaf, soziale Kontakte. Meine eigenen Mechanismen gegen Stress finden. Vielleicht einem Verein beitreten, singen, ein Stück Garten pflegen. Und auf der anderen Seite nicht mehr kurz vor dem Schlafen drei Teller Nudeln essen oder lange am Handy daddeln.
Sie sprechen in ihrem Buch von den "Big 5" gegen Stress: Ernährung, Bewegung, Schlaf, Beschäftigung, Beziehungen. Warum sind gerade diese naheliegenden Dinge wichtig?
Eine einzelne Wundermedizin für alles gibt es eben nicht. Es ist immer eine Kombination. Deshalb frage ich bei meinen Patient:innen die "Big 5" ab. Wir schauen, welches wohl das größte Thema ist. Da fangen wir an. Dann geht’s weiter mit dem nächsten. Es geht darum, Steinchen für Steinchen umzudrehen und verschiedene Baustellen anzugehen.
Sie haben in Ihrem Buch auch über mögliche Gründe von Stress gesprochen, manchmal würden uns demnach Jahre alte Stresssituationen wieder einholen. Was hat unser alltäglicher Stress von heute etwa mit den Coronalockdowns vor fünf Jahren zu tun?
Während der Lockdowns waren wir nicht nur in einer sozialen Ausnahmesituation, sondern auch ständig in Alarmbereitschaft vor dem Virus. Da wir ein Gedächtnis nicht nur auf Ebene des Gehirns, sondern etwa auch auf Ebene der Haut haben, können sich unsere Körper an extreme Erfahrungen jahrelang zurückerinnern: Sie verknüpfen neue, unübersichtliche Situationen mit dem früheren Ausnahmezustand und reagieren in etwa wie damals während Stresssituationen im Lockdown – obwohl objektiv keine Gefahr droht.
Was passiert bei Stress im Körper?
Unser ganzer Körper passt sich dem Stress an. Erste Impulse für eine Reaktion kommen meist über Sinnesorgane wie die Haut, über die wir mit der Umwelt verbunden sind. Hormone wie Cortisol und Adrenalin, zudem Immunzellen oder Nervenfasern können dann gleichzeitig aktiviert werden. Häufig kommt die Angst dazu, dass der Stress unangenehm reagiert: bei manchen macht er einen Reizdarm, Schuppenflechte oder auch Rheumaschübe. Psychische und somatische Reaktionen greifen ineinander. Es ist wichtig, zu lernen, aus diesem Kreis auszusteigen.
Fallen Ihnen Stress-Trends unter jungen Menschen auf?
Viele junge Menschen konnten während der Lockdowns zentrale soziale Coming-of-Age-Erfahrungen nicht machen – etwa das erste Bier im Verein oder aber ihre Abiturfeier. Diese fehlende Übung im sozialen Miteinander ist heute spürbar. Auf unseren Stationen sind viele, die deshalb etwa keinen guten Zugang zum eigenen Körper mehr haben.
Was heißt das konkret?
Es gibt ein wachsendes Problem mit der Körperwahrnehmung unter jungen Menschen – auch infolge des Online-Unterrichts während der Pandemie und der vielen Zeit, die mit sozialen Medien verbracht wird. Immer häufiger entwickeln sie körperdysmorphe Störungen, das heißt man guckt in den Spiegel und sieht nicht das, was wirklich da ist. Zudem steigen die optischen Erwartungen an den Körper. Das führt häufig zum Wunsch nach plastischen Eingriffen oder sogar zu selbstverletzendem Verhalten.
Was geben Sie besonders jungen Menschen mit an die Hand?
Achtsamkeit lernen. Das heißt, sich und andere mit allen Sinnen wahrzunehmen: die Füße auf dem Boden, den Wind auf der Haut. Das lässt sich trainieren. Selbstfürsorge und Empathie gehören dazu – spüren, was der andere fühlt und was das mit mir macht. So entsteht Sensibilität für eigene und fremde Bedürfnisse, Respekt und Demut.
Kann man es mit der Achtsamkeit auch übertreiben?
Man sollte nicht in die Selbstoptimierungsfalle tappen. Meine Tochter meckerte letztens, dass ihre Apple Watch sie damit ständig nerve, wegen ihres Pulses Atemübungen zu machen. Manche glauben, wir müssen ständig Stress abbauen. Nein, wir müssen gar nichts. Manchmal ist Nichtstun genau richtig. Man sollte hinhören: Was brauche ich wirklich? Diese Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung tragen wir alle in uns.