Es gibt Studien, die zeigen, dass Social Media die Psyche belastet und es gibt Studien, die zeigen, dass Social Media auch ganz nützlich sein kann. Dann gibt es Metastudien, die all diese Studien zusammentragen, auswerten, relativieren. Und es gibt Jonathan Haidt, der in seinem jüngsten Buch keinen Zweifel mehr daran lässt, dass soziale Netzwerke unsere Jugend ins Verderben stürzen.
Was also stimmt nun?
Der Medienpsychologe Tobias Dienlin erklärt, warum sich Instagram anders anfühlt als Reddit, weshalb Tiktok süchtig macht wie kaum ein anderes Medium und warum Mädchen und Jungen ganz unterschiedlich gefährdet sind.
Watson: Herr Dienlin, während der US-Psychologe Jonathan Haidt vor einer toxischen Jugend durch Social Media warnt, sagen Metastudien: Der Effekt ist minimal. Wie passt das zusammen?
Tobias Dienlin: Tendenziell scheint der Einfluss eher negativ zu sein. Wahrscheinlich ist dieser Effekt aber nicht besonders stark. Trotzdem ist es sinnvoll, darauf zu achten, dass der Konsum nicht übermäßig wird. Wer soziale Kontakte pflegt, Sport treibt oder einem Job nachgeht, muss sich keine großen Sorgen machen.
Gibt es eine Grenze, ab der die Nutzung schadet?
Eine klare Grenze gibt es nicht, die Studienlage ist eher unterbestimmt. Es gibt ältere Studien, die zeigen: Wer komplett verzichtet, ist nicht unbedingt glücklicher. Aber ab zwei bis drei Stunden täglich steigt das Risiko für negative Effekte. Junge Menschen kommen inzwischen auf bis zu fünf Stunden täglich – das ist eindeutig zu viel. Unter zwei Stunden zu bleiben, wäre für die meisten sinnvoll.
Was macht Social Media eigentlich so problematisch?
Das ist das Paradoxe: Häufig ist die erste Wirkung positiv. Gerade Tiktok ist extrem unterhaltsam und sehr gut auf unsere Interessen zugeschnitten. Aber nach längerer Nutzung fühlt man sich häufig zerstreut, nicht erholt, teilweise sogar schlechter als vorher. Das Problem liegt darin, dass es zu gut funktioniert. Es fällt uns schwer, aufzuhören.
Meta hat Anfang des Jahres in den USA sein Factchecking gestrichen, X bevorzugt seit Elon Musks Übernahme klar rechtspopulistische Inhalte. Fördern die Algorithmen inzwischen gezielt das, was uns psychisch zermürbt?
Absolut. Gerade extremer oder radikaler Content triggert unsere Aufmerksamkeit, zum Beispiel durch Angst. Wir sind evolutionär so geprägt, dass wir Gefahren stark priorisieren und uns ihnen zuwenden. Der Algorithmus bedient das.
Wie verändert das unsere Wahrnehmung von Realität?
Die Folge ist ein verzerrtes Weltbild. Es ist, als würden wir die ganze Zeit an einer Unfallstelle vorbeigehen. Man denkt, überall brennt es, dabei ist das real nicht der Fall. Das ist demokratietheoretisch gefährlich, weil es unsere Wahrnehmung systematisch verschiebt.
Gibt es Unterschiede zwischen den Plattformen?
Ich habe in einer Studie herausgefunden, dass Twitter, heute X, während der Corona-Pandemie die negativsten Effekte hatte. Nicht dramatisch, aber merkbar. Instagram hingegen hatte tendenziell positive Wirkungen, weil dort der Umgang oft spielerischer war, da ging es dann eher um Rezepte für Bananenbrot. Die Plattformen unterscheiden sich deutlich in Tonalität und Wirkung.
Studien legen nahe, dass vor allem junge Frauen auf Social Media unter Schönheitsdruck leiden, während sich gleichzeitig Jungs in Onlineforen politisch radikalisieren. Werden Frauen depressiv und Männer rechtsextrem?
In einer Studie mit Schüler:innen in Österreich konnten wir bestätigen, dass Mädchen stärker betroffen sind. In unserer Gesellschaft leitet sich aus verschiedenen Geschlechteridentitäten unterschiedliche Arten der Wertschätzung ab. Mädchen erleben negative Effekte durch Schönheitsideale, bei Jungen sind es tendenziell andere Risikobereiche, wie politische Extreme. Das sind unterschiedliche Mechanismen, die auch unterschiedliche Präventionsansätze erfordern.
Ist Social Media heute schädlicher als früher?
Es gibt die plausible Hypothese, einfach, weil es sich verändert hat. Das StudiVZ von damals ist nicht das Tiktok von heute. Früher war es sozialer, heute dominiert der endlose Feed. Belegen können wir das empirisch noch nicht eindeutig, aber vieles spricht dafür. Es hängt sehr davon ab, welche konkrete Fragestellung man anlegt.
Warum entwickelt es sich in diese Richtung?
Weil sie technisch immer besser geworden sind – personalisierter, unterhaltsamer, schwerer zu verlassen. Tiktok funktioniert auf Steroiden. Diese Sogwirkung gab es beim Fernsehen zwar auch schon. Aber damals gab es wenigstens Begrenzungen wie die FSK oder Regeln der Eltern. Wenn man seine ganze Jugend ohne Limit auf diesen Plattformen verbringt, ist das etwas anderes als den ganzen Tag "Simpsons" zu schauen.
Kann es da nicht auch zu Verzerrungen kommen? Verbringen Menschen, die ohnehin schon mentale Probleme haben, mehr Zeit auf Social Media?
Das ist das sogenannte Matthäus-Prinzip: Wer psychisch stabil ist, dem schadet Social Media weniger, wer verletzlicher ist, leidet stärker. Studien zeigen, dass depressive Menschen eher negativ beeinflusst werden – und gleichzeitig auch eher zu Social Media greifen. Das verstärkt sich gegenseitig. Beide Effekte sind eher klein, aber negativ.
Warum hält sich trotzdem das Bild von Social Media als Wurzel allen Übels, wenn die Effekte oft klein und kontextabhängig sind?
Weil das Thema komplex ist. Es gibt durchaus Bereiche, in denen soziale Medien positive Effekte haben, etwa im Bereich sozialer Unterstützung. Wer viel nutzt, hat oft ein größeres Netzwerk. Aber man muss genau hinschauen: Messenger-Dienste wie Whatsapp oder Signal schneiden dabei besser ab als Plattformen wie Tiktok oder Instagram. Dort sehen wir häufiger negative Effekte, etwa bei Depressivität oder anhaltend schlechter Stimmung.
Also heben sich die positiven und negativen Effekte einfach auf?
Eben nicht. Die positiven Effekte betreffen eher spezifische Bereiche wie Kontaktpflege, während die negativen oft allgemeinere Indikatoren wie die Lebenszufriedenheit betreffen. Und wenn man das alles zusammenzählt, bleibt unterm Strich ein leicht negativer Trend.
Wie relevant ist dieser negative Effekt?
Das lässt sich schwer sagen. Aber wir sehen: Die Plattformen entwickeln sich weiter – und die Effekte scheinen vor allem bei jüngeren Nutzer:innen negativer auszufallen. Je jünger, desto vulnerabler.
In Australien ist Social Media erst mit 16 Jahren erlaubt, mehrere Länder prüfen derzeit ähnliche Gesetze. Halten Sie die Zahl für sinnvoll?
Ich weiß nicht, ob ich es wirklich empfehlen würde, aber ich finde es eher besser als schlechter. Das wäre kein Zeichen von Digitalfeindlichkeit, sondern von Verantwortung. Entscheidend ist letztlich auch die Medienkompetenz.
Auf mehr Medienkompetenz können sich alle einigen, oft bleibt aber unklar, was damit konkret gemeint ist.
Sie wird nicht alles lösen können, man darf da nicht naiv sein. Es ist gut, wenn junge Menschen lernen, kritisch mit Inhalten umzugehen und Quellen richtig zu bewerten. Aber das allein reicht nicht. Man muss sich darauf einigen, dass noch andere Sachen dazugehören, um glücklich zu sein. Ausflüge, Sport, Kunst, Musik. Wenn ich fünf Stunden am Tag auf Social Media bin, bleibt für andere Lebensbereiche schlicht keine Zeit.
Der Digital Services Act, der sozialen Plattformen strengere Regeln auferlegen soll, gilt seit einem Jahr, scheint aber bislang wenig bewirkt zu haben. Hat man politisch längst vor der Macht der Plattformen kapituliert?
Wir stehen erst am Anfang der Regulierung. Es gibt Überlegungen, in Deutschland weitere Schritte zu gehen. Aber man kann nicht alles regeln. Alkohol ist auch problematisch, aber er gehört zur Lebensrealität. Komplett verbieten wird man Social Media nicht.