Sie hat studiert, sie hat einen Doktortitel, und trotzdem stellte Autorin Daniela Dröscher irgendwann fest, dass Familie,ihre Herkunft aus einer Facharbeiterfamilie, sie weiter verfolgt. In ihrem neuen Buch "Zeige deine Klasse" hat sie ihre Erfahrungen aufgeschrieben.
Wir haben mit ihr über die kleinen Lasten der Familie, Herkunft, Bildung und was in der Schule alles falsch läuft, gesprochen.
Du unterscheidest "Klasse" und "Schicht". Was verstehst du darunter?
Früher gab es den
Begriff der Klasse. In die wird man hineingeboren und sie definiert sich durch
Grenzen und Undurchlässigkeit. Dieser Begriff wurde durch Schicht ersetzt. Ein
Wort, das Durchlässigkeit suggeriert. Aber eben nur suggeriert.
Du hast studiert,
lebst als Schriftstellerin im Prenzlauer Berg in Berlin. Dennoch schreibst du von unsichtbaren Grenzen und stillen Codes der Klassen. Was meinst du damit?
Meine Mutter hat einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Da spielte auch ihre
Unrechtserfahrung als Zugezogene aus Schlesien eine Rolle. Sie hat
mich und meine Schwester gelehrt: Alle Menschen sind gleich, und wir behandeln
alle Menschen gleich. In diesem schönen Selbstverständnis bin ich aufgewachsen.
Die Grenzen sind durchlässig, man kann sich verändern.
Wie hat sich die
Scham in deinem Leben gezeigt?
Auf dem Dorf ging es eher um eine Scham 'nach unten'. Da hieß es immer, grenze
dich nicht ab, etwa durch Geld, sondern zeig', dass du dazugehörst. Später nach
dem Studium kam eine Scham 'nach oben' dazu. Irgendwann hatte ich Freundinnen
in der Stadt, die hatten ganz selbstverständlich Personal oder sind mit einem
ganz anderen Selbstbewusstsein aufgetreten.
Nämlich wie?
Die Sprache ist der größte Unterschied. Dabei geht es nicht allein um den Sprachschatz.
Ich habe auch nie richtig Dialekt gesprochen, aber diese neue, schöne Sprache
musste ich mir erst aneignen. Es gibt eben eine gewisse Selbstverständlichkeit, sich in einem Milieu zu bewegen. Mit welchem Selbstbewusstsein spricht man und
meldet sich in Debatten zu Wort.
Geht es bei dir um einen Aufstieg aus dem ländlichen Milieu oder einer klassischen 70er-Jahre Facharbeiter-Aufstiegsfamilie?
Beides. Natürlich
hat das Landei-Gefühl mit der ländlichen Herkunft zu tun. Das Dorf ist
klassenübergreifend und eine eigene soziale Welt. Der Prenzlauer Berg in Berlin
ist da etwas ganz Anderes. Ich habe hart daran gearbeitet eine Idee von Familie
zu entwickeln, die sich nicht bürgerlich anfühlt.
Und das bedeutet?
Meine Mutter hatte immer eine Art Imperativ, der lautete, nicht besser zu sein
als andere. Weil es immer den Verdacht gab, da will sich jemand erheben über
andere. Und das steckt bis heute in mir drin. Eine Freundin sagt immer: 'Habitus erkannt, Habitus gebannt.' Das ist aber nicht so. Ich muss mit beiden
Welten leben.
Die berühmte Augenhöhe, darin liegt ein tiefes Glück.
Du hast gesagt, die
dörfliche Welt sei "klassenübergreifend". Wie meinst du das?
Das Dörfliche hält
auf jeden Fall klassenübergreifende Räume bereit: Es gibt nur einen
Sportverein, eine Dorfkneipe oder – wie in meinem Fall – einen Chor für alle
Kinder des Dorfes. Auch für die, die nicht so schön singen.
In Großstädten fehlen diese
gesamtgesellschaftlichen Räume. Schulwahl ist extrem wichtig und die Abgrenzung
nach unten. Bildung spielt eine große Rolle in deinem Buch. Auch
Chancengleichheit. Verschreckt 'Bildung' nicht alle jene, die mit der Institution Schule nicht so gut zurecht kommen?
Beim Bildungsbegriff meiner Eltern ging es nicht um, mach Abitur, dann
verdienst du mehr. Es ging eigentlich um Herzensbildung, mach das, was dir Spaß
macht. Egal, ob Musik oder Sport. Suche dir eine Passion und lebe diese
Passion. Das finde ich heute noch pädagogisch super.
Was muss Schule leisten?
Fehler zulassen. Der Fehler ist erlaubt. Der Fehler ist konstruktiv, aus
Fehlern lernen wir. Das Schlimmste sind
Noten als Sanktionierung.
Du bist eine "West-Autorin". Dein Buch stößt auch im Osten auf großes Interesse. Woran liegt das?
Wolfgang Thierse hat
nach der Wende gesagt: 'Wir müssen uns unsere Biografien erzählen.' Und das ist
nicht passiert. In meinem Buch liegt nun der Westen unter dem Brennglas. Eine
Kollegin sagte, endlich liegt der Westen mal auf der Couch. Das ist, glaube ich,
für viele interessant, gerade auch in Ostdeutschland.
Der Buchtitel "Zeig deine Klasse" ist ein Imperativ. Wie ist das zu verstehen?
Es ist eine
Anspielung an Joseph Beuys 'Zeig deine Wunde'. Es ist die Aufforderung, seid
offen, sprecht darüber, macht euch verletzlich. Denn, wenn wir Gefühle ändern,
dann ändern wir die Realität.