Fünf Jahre lang habe ich in Hörsälen gesessen, in Laboren pipettiert, bin auf Stationen umhergerannt, habe mich in OP-Sälen ans untere Ende der Nahrungskette gestellt und mir die Beine in den Bauch gestanden. Alles, um mich auf diese Situation vorzubereiten.
Jetzt ist der Moment gekommen: Ich stehe im blauen Kasack vor dem Patienten. Meinen Kittel trage ich wie immer lässig hochgekrempelt und offen. Meine Haare sind wüst zusammengebunden, für Make-up hatte ich in der Früh keine Zeit.
Der Ultraschall lief trotz des Übergewichts des Patienten zufriedenstellend. Ich sage ihm, dass der Arzt gleich noch einmal zu ihm komme. Dieser fragt mich jedoch nur nach meinem erhobenen Befund, nickt und vertraut meinem Ergebnis.
Und das war es also.
Ich hatte das erste Mal die Verantwortung für einen Patienten. Ich, (fast) ganz allein und ohne darauf vorbereitet zu sein. Ein mulmiges Gefühl.
Nach fünf Jahren Studium habe ich endlich mein Praktisches Jahr in München begonnen, wobei mir der frühere Begriff "Ärztin im Praktikum" besser gefällt.
Konkrete Erwartungen an den Ablauf hatte ich nicht. Nie im Leben hätte ich jedoch damit gerechnet, auf einmal einen Platz im Team zu bekommen, ohne darum kämpfen zu müssen. Und das, obwohl sich seit meinem letzten Pflichtpraktikum weder mein Wissensstand noch meine praktischen Fähigkeiten weiterentwickelt hatten, denn mit dem theoretischen Teil der Uni war ich damals schon fertig.
Selbst wenn das Gefühl der plötzlichen Verantwortung ungewohnt ist, fühlt es sich auch sehr gut an. Wie eine Belohnung für die Arbeit der letzten Jahre. Ich könnte mich fast daran gewöhnen. Trotzdem macht es mir Angst.
Was passiert, wenn ich noch gar nicht bereit bin? Würde sich das anders anfühlen? Verschwindet diese Emotion irgendwann?
Obwohl mir manchmal mulmig zumute ist, bin ich sehr dankbar dafür, bereits jetzt, während meines Praktischen Jahres, die Möglichkeit zu bekommen, Verantwortung übernehmen zu dürfen.
Denn noch bin ich Studentin. Ich arbeite zwar praktisch, dennoch wird keineswegs von mir verlangt, besagte Verantwortung allein zu tragen. Ich würde es als außergewöhnlich bezeichnen, bereits während meines ersten Monats eine für mich solch große Aufgabe zu erhalten.
Natürlich war mir klar, dass ich die ersten Monate mit rauchendem Kopf die Klinik verlassen würde. Ich hatte aber nicht erwartet, dass mich die Übernahme von Verantwortung so weitreichend beschäftigen würde. In meiner konstruierten Klinikwelt war mein Kopf voll mit spannenden Patientenfällen, außergewöhnlichen Krankheiten und neu entwickelten Medikamenten.
Nicht aber mit der Sorge, ganz bald schnelle Entscheidungen treffen zu müssen – und mich dafür nicht bereit zu fühlen. Schließlich geht es hier um die Gesundheit von Patient:innen.
Ich denke, die Bezeichnung "hineinwachsen" trifft es in diesem Falle sehr gut. In weniger als einem Jahr darf ich mich "Ärztin" nennen. Und all das, was mir jetzt so neu und aufregend erscheint, wird schon sehr bald mein Alltag sein.
Über das Hierarchie-System in Kliniken kann man sagen, was man möchte, es ist veraltet und gehört reformiert, aber nichtsdestotrotz hat es seinen verdienten Platz: Ich darf mich in meinen Beruf hineinentwickeln. Ich darf Dinge nicht wissen, ich darf auch nach meinem Studium noch lernen, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen.
Und ich darf mich dem beruhigenden Gefühl hingeben, nicht allein zu sein. Wenn ich Fehler mache, wird immer jemand an meiner Seite sein, der mehr Wissen und mehr Erfahrung als ich hat – und mich korrigieren kann.
Ich bin mir sicher: Ich werde in die Schuhe der Ärztin hineinwachsen, mit all den Höhen und Tiefen des kommenden Weges. Ich freue mich darauf. Und werde an dieser Stelle darüber berichten. Denn ab sofort schreibe ich eine watson-Kolumne über mein Leben als junge Medizinerin. Und auch darüber freue ich mich sehr.