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Streichung des Elterngelds: Deutschland ist ein kinderfeindliches Land

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Kinder sind süß, kosten aber bis zur Volljährigkeit sehr viel Geld. Bild: Pexels / Yan Krukau
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Elterngeld-Streichung zeigt, wie kinderfeindlich Deutschland ist

05.07.2023, 16:1705.07.2023, 20:13
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Die Diskussion um die Elterngeld-Streichung ist ein kleines Erdbeben, das die deutsche Medien- und Diskussionslandschaft in dieser Woche erschüttert. Die Familienministerin Lisa Paus plant, im Haushaltsausschuss eine Streichung des Elterngelds für Ehepaare, die mehr als 150.000 Euro Jahresgehalt verdienen. Bisher liegt die Grenze bei 300.000 Euro. Es geht dabei um das zu versteuernde Einkommen, nicht um das Bruttoeinkommen.

Die Empörung vonseiten der Eltern war groß, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Die einen regten sich über die geplante Streichung des Elterngelds auf, die anderen darüber, dass die – ihrer Meinung nach gerechtfertigte Einsparung bei Besserverdienern – überhaupt ein Aufreger-Thema ist.

Man muss dazu sagen: Für ein gemeinsames Jahresgehalt von 180.000 Euro brutto muss jeder Elternteil circa 7500 Euro brutto im Monat verdienen. Damit gehören sie zur oberen Mittelschicht. Je nach Steuerklasse und Anzahl der Kinder (berechnet mit Steuerklasse 3 oder 4 sowie 1 oder 2 Kinder) bleibt davon netto zwischen 4200 und 5500 Euro übrig. Ist man damit wirklich reich?

Laut Bundesministerium für Arbeit und Soziales, gelten Menschen in Deutschland als reich, "wenn sie das Dreifache des Medians der Nettoeinkünfte von der Gesamtbevölkerung verdienen." Dieser liegt bei knapp 1900 Euro. Eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren gilt mit einem Nettoeinkommen ab 8090 Euro im Monat also als reich.

"Deutschland ist, meiner Meinung nach, ein kinderfeindliches Land."

Unabhängig von der Definitionsfrage, ab welchen Einkommen man als reich gilt: Bei nötigen Einsparungen schon wieder bei den Familien anzusetzen, geht gar nicht.

Deutschland sollte das Kinderkriegen fördern, nicht erschweren

"Großbritannien verschwindet", titelte heute eine Zeitung wegen des dortigen Bevölkerungsschwunds. Man könnte auch sagen: Deutschland schwindet schon lange. Seit Jahren wird von der Politik große Panikmache betrieben, dass die deutsche Gesellschaft nicht genug Kinder bekommt und überaltert ist. Experten fragen sich, warum gerade Akademikerinnen oft aufs Muttersein verzichten. Sie warnen, dass das Renten- und Sozialsystem zusammenbrechen wird, wenn nicht genug Kinder, also künftige Steuerzahler:innen nachwachsen.

Fest steht: Deutschland braucht dringend mehr Kinder.

Trotzdem wird kaum etwas dafür getan, die Situation für Familien zu verbessern. Die Lage an Kitas und Schulen ist katastrophal, es gibt zu wenig Plätze, zu wenig Personal und eine schlechte Ausstattung. Und auch die Unterstützung für Mütter ist mangelhaft. Kein Wunder, dass viele Menschen sich hierzulande fragen, ob sie wirklich Kinder bekommen wollen.

Die Bevölkerung in Deutschland wird immer älter.
Die Bevölkerung in Deutschland wird immer älter.statista 2023

Deutschland ist, meiner Meinung nach, ein kinderfeindliches Land. Und das sage ich als Mutter.

Während der Corona-Krise wurden weder die Eltern mit der plötzlichen Doppelbelastung zwischen Care-Arbeit und Lohnarbeit unterstützt, noch die Interessen von Kindern und Jugendlichen auf irgendeine Art wahrgenommen.

Eine Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung zeigte, dass Kinder und Jugendliche während der Schulschließungen zu 75 Prozent häufiger Depressionssymptome aufwiesen als vor der Pandemie. Am Ende kam die Corona-Jugend dank vorschnell geschlossener Schulen, wie auch Karl Lauterbach im Nachhinein zugab, mit Lerndefiziten, Depressionen und verpassten Lebenserfahrungen wie einer Abi-Feier aus der Pandemie heraus.

"Zwar sind Kinder süß – aber sie kosten sehr viel Geld: Durchschnittlich rund 148.000 Euro bis zum 18. Lebensjahr."

In Berlin werden derzeit ebenfalls in vielen Bezirken gerade Streichungen im Bereich Soziales und Familie geplant, weil die chronisch verschuldete Hauptstadt einen Sparkurs verordnet bekommen hat. Dass die Bezirke gerade hier sparen, wurde von der Großen Koalition vorgegeben. Unter die Kürzungen fallen beispielsweise Streichungen von Sicherheits- und Reinigungspersonal an Schulen und von Sozialleistungen für arme Jugendliche, zum Beispiel für die Klassenfahrt. Außerdem beinhaltet es die Schließung von Wasserspielplätzen und ein Reparatur-Stopp kaputter Spielgeräte.

Nach Kindern ist auch ein hohes Einkommen schnell eingeschrumpft

Nun kommt also noch die Streichung des Elterngelds. Natürlich werden wohlhabende Familien belastet, die die Kürzung wahrscheinlich überleben werden. Doch auch für sie wird der Einschnitt spürbar sein und auch sie werden überlegen müssen, ob sie 12 bis 14 Monate ohne ein zweites Einkommen in Kauf nehmen wollen, um Kinder zu bekommen.

Denn der Preis, um ein Jahr lang das eigene Baby zu pflegen, wäre für sie extrem hoch: Wenn man mit einem Elterngeld-Höchstsatz von 1800 Euro plant, fehlen der Familie ohne das Elterngeld dann insgesamt über 25.000 Euro.

Zwar sind Kinder süß – aber sie kosten sehr viel Geld: Durchschnittlich rund 148.000 Euro bis zum 18. Lebensjahr, wie das Statistische Bundesamt 2018 ermittelte. 763 Euro im Monat geben Paare mit einem Kind für den Nachwuchs aus (Stand 2021).

Kitas kosten in vielen Bundesländern circa 300 Euro pro Monat und Kind. Dazu kommen Kleidung, Hobbys, Spielzeug und all die vielen Windeln. Bis zum dritten Lebensjahr verbraucht ein Kind im Schnitt circa 4340 Windeln im Wert von 1519 Euro. Und auch ein Zimmer mehr braucht man im Schnitt pro Kind, sprich die Miete wird sehr viel teurer.

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Natürlich ist es eine persönliche Entscheidung und auch ein Stück weit ein eigenes Risiko, ein Haus zu kaufen oder eine teure Vierzimmerwohnung zu mieten. Man könnte auch ein Stockbett bauen und weiter in der Zweizimmer-Wohnung bleiben. Ich kenne viele Familien in Berlin, die genau das machen. Eine dauerhafte Lösung ist das leider selten.

"Die Frau, die statistisch weniger verdient als der Mann und statistisch eher von Altersarmut betroffen ist, erlebt die Einsparungen am stärksten."

Familien bräuchten ja nicht zwingend eine Miete von 2500 Euro im Monat zu bezahlen, heißt es da. Aber wo sollen sie bitte auf dem Wohnungsmarkt eine billigere Wohnung finden? Oder sollen Familien generell nicht mehr im Stadtleben stattfinden? Wenn ich eins weiß, dann dass die meisten Familien mit Handkuss in eine günstigere Wohnung ziehen würden – wenn sie eine fänden.

Frauen trifft die Kürzung am stärksten

Die Kürzung von Elterngeld ist außerdem ein herber Schlag für die Gleichstellung und die Aufteilung der Care-Arbeit. Es wurde ja gerade von der CDU dafür eingeführt, um junge Frauen darin zu bestärken, wieder arbeiten zu gehen. Doch weiterhin geht auch heute meist noch die Frau ganz oder hauptsächlich in Elternzeit.

Dann hätte sie in der Elternzeit direkt ein ganzes Jahr lang kein Geld. Je nach finanziellem Ehemodell erlebt also die Frau, die statistisch sowieso weniger verdient als der Mann und statistisch eher von Altersarmut betroffen ist, die Einsparungen am stärksten. Oder sie rechnet sich schon im Vorfeld durch, dass die Beförderung lieber gar nicht erst angenommen wird – um das Elterngeld nicht zu riskieren.

Young plus size mother in casual wear holding little toddler boy in her lap while riding a bus together in sunny day. Mom and her child enjoying a bus journey together.
Das Problem mit der Miete: Kinder sind sehr viel seltener in der Stadt als auf dem Land.Bild: iStockphoto / zamrznutitonovi

Wahrscheinlich werde ich niemals in meinem Leben genug Geld verdienen, um von dieser Elterngeld-Streichung betroffen zu sein. Aber ich finde es trotzdem eine Schweinerei, immer zuerst auf dem Rücken der Familien zu sparen. Familien, die ihre Karriere, ihr mentales und körperliches Wohlbefinden dafür opfern müssen, um Kinder zu anständigen Menschen zu erziehen und den deutschen Sozialstaat am Leben zu erhalten, werden in Deutschland immer weiter belastet.

Wie wäre es stattdessen, die wirklich Reichen endlich vernünftig zu besteuern? Die müssen in Deutschland geradezu darum betteln, wie Marlene Engelhorn das in Interviews tut. Für mehr soziale Gerechtigkeit. Oder wie wäre es, bei der Erbschaftssteuer oder der Aufrüstung der Bundeswehr einzusparen? Es gibt so viel Einspar-Potential für mehr Gerechtigkeit in Deutschland. Bei den Kindern und Familien ist sie definitiv fehl am Platz.

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