Wir sind mitten drin in der vierten Corona-Welle – und wir werden ohne Kontrolle mitgerissen. Denn die Regierenden in Bund und Ländern haben viel zu spät gehandelt, um unsere jetzige Lage zu verhindern: Landkreise mit einer Inzidenz über 1000, überfüllte Krankenhäuser, ausgebranntes Personal.
Was erwartet uns in den kommenden Tagen und Wochen? Manches davon ist schon bittere Realität, anderes steht noch zur Debatte: Schulschließungen, Lockdown, Impfpflicht, Triage, Kontaktbeschränkungen. Was Politiker lange Zeit als Drohung benutzten, um möglichst viele Menschen zur Impfung und der Einhaltung der Hygieneregeln zu bewegen, wird nun plötzlich ganz sachlich und unaufgeregt als Option im Kampf gegen die steigende Inzidenz diskutiert.
Ja, der kommende Winter wird hart. Nicht nur, weil es kaum Weihnachtsmärkte geben wird, keine Weihnachtspartys und in der Konsequenz kaum Vorfreude. Und, wenn es hart auf hart kommt, wir uns zu Weihnachten möglicherweise wieder im Lockdown befinden. Nicht nur, weil ich mir schwer vorstellen kann, fröhlich Weihnachten zu feiern, während im selben Moment hunderte Menschen sterben, oder Mediziner und Pflegende am Weihnachtsabend um deren – teils mit voller Absicht aufs Spiel gesetzte – Leben kämpfen. Nein, mir graut hauptsächlich davor, mit engen Familienangehörigen am Tisch zu sitzen, die eine Corona-Impfung weiterhin kategorisch ablehnen.
Menschen, die ich sehr liebe, auf die ich mich jedes Jahr freue. Freiwillig ungeimpfte Menschen, oder ganz brutal gesagt: Impfverweigerer. Sie haben sich ihre Meinung gebildet – auf YouTube, auf Telegram, bei RT-Deutsch und anderen zwielichtigen Kanälen – und sie haben Angst vor der Impfung, verteufeln die Pharmaindustrie und erklären die Medien zum ultimativen Feind.
Auf eine vorsichtige Nachricht: "Wie geht es dir? Bleib' bitte gesund!", schreiben sie meist etwas zurück, wie schlimm gerade alles sei (stimme ich zu) und beschweren sich darüber, dass man in Deutschland ja gar keine Kritik mehr äußern dürfe (ähm...). Letztes Jahr erzählten meine Verwandten von falschen wissenschaftlichen Beweisen, schlimmen "Langzeitwirkungen" der Impfung und wie sie sich als Opfer einer "Meinungsdiktatur" und einer "naiven Mehrheitsgesellschaft" fühlen.
Dieses Jahr an Weihnachten muss ich mir immerhin keine wilden (Verschwörungs-)theorien mehr darüber anhören, wie Politik, Medien und Wissenschaft uns alle belügen und krank machen wollen. Denn diese Positionen sind inzwischen zur Genüge ausgetauscht, die Fronten sind geklärt – hier geimpft, da ungeimpft. Dazwischen ein klaffender Graben, so tief, dass man sich nicht mehr darüber zu springen traut.
Ein kleiner Piks gegen ein großes Virus hat eine Trennlinie durch unsere Familie gezogen. Und so sitzen wir am Tisch, zwischen uns ein Ozean an unausgesprochenen Vorwürfen, Argumenten, Gedanken und Sätzen, und versuchen blind, aneinander vorbei zu navigieren, damit keine Mine hochgeht und den Abend ruiniert. Wir versuchen ein scheinbar lockeres Gespräch aufrechtzuerhalten, bei dem in Wahrheit jeder auf leisen Sohlen geht und sich mit seiner wahren Meinung zurückhält.
Ich hätte so viel zu sagen, aber ich bleibe stumm.
Stumm vor Verzweiflung, aber auch aus Scham. Weil ich zu feige bin, die Konfrontation zu suchen und nicht versuche, meine engen Familienangehörigen von der Impfung zu überzeugen. Denn ich habe es versucht, das ja. Ganz vorsichtig und behutsam an ihre Überzeugungen geklopft. Aber, so mein Gefühl, sie wollen gar nicht überzeugt werden. Sie wollen recht haben. Und sie leugnen gar nicht, dass es Corona gibt, sagen aber: Die Impfung sei viel gefährlicher als das Virus.
Ich diskutiere nicht mehr mit meinen Verwandten, weil ich weiß, dass sie bei der kleinsten Kritik sofort ihr Schild herunterklappen und alles abschmettern lassen, was ich an Argumenten und Beweisen hervorbringe.
Ich fühle mich schlecht, weil ich nicht weiter versuche, mir wichtige Menschen von der Sinnhaftigkeit einer Corona-Impfung zu überzeugen. Aber ich halte die Klappe und die anderen auch. Warum? Weil uns schlussendlich die Familie, die Liebe zueinander, zu wichtig ist, um an einem verdammten Virus zu scheitern. Ein Virus, das so vertraut geglaubte Menschen plötzlich so fremd gemacht hat und so beunruhigende Ansichten und Werte zutage fördert, die man sich nie hätte vorstellen können. Man hofft einfach inständig, diese befremdlichen Anwandlungen mögen eines Tages vorbeigehen, einfach irgendwann mit dem Ende der Pandemie verschwinden.
Denn die Langzeitwirkungen, die Corona wirklich hervorruft, sind keine "Impfschäden", sondern die Spaltung von Freunden, Familien und Kollegen in zwei Hardliner-Gruppen, die sich einfach nicht mehr verstehen. Verstehen KÖNNEN. Wie soll man diskutieren mit jemandem, der ablehnt, dass eins plus eins gleich zwei ist? Der seine eigenen Fakten aufstellt, nur seiner gefühlten Wahrheit glaubt, in seiner individuellen Realität lebt? Ich weiß es nicht. Und ich fühle mich deshalb, als hätte ich versagt. Versagt dabei, geliebte Menschen aus diesem Strudel zu ziehen, aus dem sie allein nicht mehr herauskommen.
Deshalb vermeide ich den Kontakt mit meinen Verwandten, weil er so schmerzt. Wo früher ein enger Vertrauter war, ist inzwischen ein deprimierter und wütender Mensch in Selbstisolation, der sich unverstanden und angegriffen fühlt – auch von mir. Das tut weh und macht mich traurig. Wo früher enge Gespräche waren, Lachen und Verständnis, ist jetzt: Corona. Doch was füllt diesen Platz, wenn Corona vorbei ist? Ich hoffe, dass nicht für immer eine Lücke bleibt.
(JJ)