Einige mögen sie noch kennen, allerdings eher als Relikte einer früheren Zeit. Vergleichbar mit den mystischen Telefonzellen, die an wenigen Ecken des Landes noch zu finden sind. Dennoch: In der Berliner Invalidenstraße steht die Filmgalerie. Eine der letzten Videotheken in Deutschland.
Es ist nicht allzu lange her, dass die große Kette Video World ihre letzte Filiale schließen musste. Wobei: Nein, nicht die letzte. In Potsdam steht noch immer eine. Als watson jedoch Enno Jansen (Name geändert), eine der Leitungspositionen der Kette, auf jenen Film-Verleih anspricht, beginnt dieser laut zu lachen.
"Lustigerweise hätten wir nie gedacht, dass gerade diese Filiale die letzte sein wird", erklärt Jansen daraufhin. "Es ist eigentlich ein Paket-Shop, jedenfalls macht er damit den größeren Umsatz. Aber man kann dort eben auch ein paar Filme leihen, und deshalb steht dort 'Videothek' oben dran."
Abgesehen von der Potsdamer Videothek alias Paket-Shop, musste Video World im Juli 2021 die letzte Filiale schließen. Inzwischen musste Jansen, der 30 Jahre lang dort gearbeitet hat, die Firma abwickeln. Dazu muss man wissen: In ihrer Hochphase hatte die Kette mehr als 50 Filialen in Deutschland. Das war eine Zeit, in der es hierzulande generell noch um die 7000 Videotheken gab. Heute sind es etwa 50.
Was ist passiert? Mit dem Internet kamen illegale Raubkopien. Dann Netflix und weitere Streaming-Dienste. Und mit der Pandemie war das Horror-Szenario vollständig.
Entgegen der Vorstellung, die Videotheken hätten von den Lockdowns sicherlich profitiert, war das Gegenteil der Fall. Das verrät sowohl die anfangs erwähnte Filmgalerie als auch Video World gegenüber watson – und zwar nicht etwa, weil kein Kontakt zur Kundschaft möglich war: Es wurden keine neuen Filme produziert.
Für Jansen bedeutete dies, mit etwas abzuschließen, das sich schon lange angedeutet hat. Die Pandemie hat dabei nur einen Prozess beschleunigt, der ohnehin nicht mehr aufzuhalten war. Auf die Frage, ob Jansen im Nachhinein glaube, etwas hätte besser machen zu können, antwortet er:
Sein Gedanke ist nachvollziehbar: Die Menschen schauen ihre Filme und Serien auf Netflix, Disney+, Amazon Prime und mehr. Das digitale Zeitalter hat das analoge gnadenlos überrannt. Die Medien wandeln sich. Jansen schätzt, dass sich Film-Studios wie Warner und Universal komplett daran anpassen werden. "Dann werden Datenträger ganz verschwinden. Unter dem Gesichtspunkt sind Videotheken in der Zukunft nicht mehr vorstellbar."
Videotheken wie die Filmgalerie. Wenn man hier eintritt, lädt leise Hintergrundmusik zum Stöbern ein. Der Raum, in dem jede Fläche mit Filmen und Serien beladen ist, ebenfalls. Fast vergessene Klassiker reihen sich neben Neuheiten. Teils auf DVD oder Blu-Ray, teils sogar – wohl mehr aus Deko-Gründen – auf VHS-Kassette.
Dazwischen schaut ein Pappaufsteller von Captain Kirk aus Star Trek in unendliche Weiten. Allerdings: Vor einigen Jahren waren diese Weiten noch deutlich größer.
Silvio Neubauer, Inhaber der Filmgalerie, hatte in der Vergangenheit ebenfalls zu kämpfen. Bereits 2013 mussten er und seine Videothek umziehen. Die Kosten des größeren Standortes ließen sich – vor allem mit der drohenden Mieterhöhung – nicht mehr mit den Umsätzen seines Film-Verleihs vereinbaren. Nach langer Suche hat man einen Ort gefunden, an dem das Stöbern weiterleben konnte. Jedoch nur, indem die Miet- und personellen Kosten ins "absolute Minimum" gedrückt wurden.
Bei einer Kette wie Video World, bei der finanzielle Faktoren wie Personal und Miete eine größere Rolle spielen, wäre ab dem genannten Umzug Schluss gewesen. Wirtschaftlich ergäbe das keinen Sinn.
Bei einem eigenen Laden, den man aus Leidenschaft zum Film selbst aufgebaut hat, kann das jedoch anders aussehen – auch wenn Neubauer dies ein wenig sarkastisch formuliert: "Einen solchen Laden zu führen ist im Grunde Selbstausbeutung."
Damit meint der Inhaber etwa, dass er für die Videothek sämtliche Rücklagen auflösen sowie Schulden auf sich nehmen musste, um schwierige Zeiten zu überstehen. Ein freies Wochenende habe er nur, wenn ein Freund ihn ablösen kann. Zwar habe er sich um Förderungen und Hilfe bemüht – doch keine Chance: Die Branche scheint völlig resigniert zu haben.
Wer den Inhaber jedoch reden hört, spürt, dass er mit seiner Formulierung – so wahr sie auch sein mag – bewusst provoziert:
Für Neubauer ist es vor allem der kulturelle Aspekt, der mit der Rettung seines Film-Verleihs einhergeht. Er erklärt: Um die komplette Auswahl einer Videothek als Streaming-Angebot zu erhalten, müsste man sich auf jeder existierenden Plattform anmelden. Dann würden die Leute aber nicht monatlich nur ein paar Euro, sondern ein Vielfaches davon zahlen – und selbst dann fehlten wichtige Klassiker. So wie die Videotheken sterben auch diese zunehmend aus.
Mit konkreten Prognosen ist der Inhaber jedoch vorsichtig. Die Richtung, in die der analoge Film-Verleih steuert, ist eindeutig, doch wie die endgültige Zukunft aussehen wird, könne er noch nicht genau sagen: "Wenn man stur ist und so einen Beton-Schädel hat wie ich, kann man sich einfach überraschen lassen, was noch kommt."
Mit dem Rückgang der Videotheken gerät ein ganzes Stück Film-Geschichte in Vergessenheit. Sowohl Neubauer als auch Jansen berichten watson, wie oft die Leute in den Videotheken die Freude am Stöbern wiederentdeckten. Vor allem Menschen, die am Computer arbeiten, würde dies eine angenehme Abwechslung bescheren. Eltern seien froh, wenn ihre Kids mal etwas anderes sehen würden: Auch Videotheken sind kein Kino – aber zumindest etwas näher daran als Streaming.
Doch der größte Faktor für die Rettung der Branche wäre wohl das Klima: Streamen hat einen enormen Energieverbrauch. Wer also weniger Zeit auf den üblichen digitalen Plattformen verbringt, und sich stattdessen auf den Weg zur Videothek macht – wenn sie denn existiert – tut auch der Welt einen kleinen Gefallen.