Wissenschaftler:innen plädieren in einem Artikel dazu, zivilen Ungehorsam zu nutzen, um auf die katastrophalen Folgen der Klimakrise aufmerksam zu machen.Bild: imago images / zuma wire
Analyse
30.08.2022, 17:0431.08.2022, 12:13
Es klingt wie ein Hilferuf.
Ein verzweifelter Schrei danach, endlich gehört zu werden. Verstanden zu werden. Und vor allem: Den so dringend notwendigen Wandel in Gang zu bringen.
Am Montag haben sechs Klimaforscher:innen gemeinsam einen Kommentar im Online-Fachmagazin "Nature Climate Change" veröffentlicht. Darin gehen sie darauf ein, warum ziviler Ungehorsam durch Forschende so dringend notwendig ist, um endlich Bewegung in den Klimaschutz zu bringen.
Klimawissenschaft und Aktivismus können nicht länger separat betrachtet werden.Bild: imago images / Nurphoto
Die Zeit, um eine lebenswerte Zukunft zu sichern, sei knapp, schreiben die Wissenschaftler:innen. Doch die Untätigkeit von Regierungen, Industrien und der Zivilgesellschaft lässt die noch übrigen Reaktionsmöglichkeiten immer schneller schrumpfen. Und sie stellt die Weichen für eine Erwärmung um 3,2 Grad – mit katastrophalen Folgen für alles und jeden.
Wenn Wissen allein nicht reicht, bleibt nur Protest
Das geht auch Aaron Thierry unter die Haut. Er ist Mit-Autor des Fachbeitrags und forscht als Doktorrand an der Universität Cardiff zum Zusammenspiel von Vernunft und Emotionen in der Klimabewegung.
Das allein reicht ihm aber längst nicht mehr.
Im April klebte Aaron Thierry sich an der Außenfassade des britischen Wirtschaftsministeriums fest. Bild: imago images / zuma wire
Deswegen ist Thierry auch Mitglied von Scientists for Extinction Rebellion – und klebte sich bei einer Protestaktion im April gemeinsam mit einigen Kolleg:innen und wissenschaftlichen Papieren an die Glaswände des britischen Wirtschafts- und Energieministeriums.
Im Gespräch mit watson sagt er:
"Ich empfinde eine ganze Reihe von Gefühlen, wenn ich an die Klimakrise denke: Entsetzen über das, was noch kommen wird. Trauer über das, was wir verlieren und Gefühle der Ohnmacht und Ungerechtigkeit über all die Schäden, die bereits angerichtet wurden."
Vor allem aber empfinde er eine "tiefe Wut" auf Interessensgruppen wie die fossile Lobby. Denn die habe dem Klimaschutz durch Desinformation und Leugnungskampagnen jahrzehntelang im Weg gestanden. Und tue es sogar heute noch mit "grüngewaschenen Versprechungen".
Klimawissenschaftler als Ärzte des Planeten: Dringende Behandlung nötig
Mittlerweile ist es fast zu spät, ist sich der Experte sicher. "Wir sehen die Schäden täglich um uns herum: Überschwemmungen, Dürren, Brände – diese Klimaveränderungen haben erhebliche Auswirkungen", sagt Thierry.
"Lange Zeit habe ich ganz naiv darauf gehofft, dass die Regierungen einfach auf die Wissenschaft hören würden."
Klimawissenschaftler Aaron Thierry
Auch deshalb rechtfertigen seine Kolleg:innen und er zivilen Ungehorsam in ihrem Kommentar als angemessen. "Lange Zeit habe ich ganz naiv darauf gehofft, dass die Regierungen einfach auf die Wissenschaft hören würden", erklärt Thierry. Aber das sei nicht passiert.
Er glaubt, dass es ein Fehler sei, Wissenschaft und Aktivismus separat zu betrachten.
Thierry erklärt im Gespräch:
"Wir erwarten von Ärzten und Medizinern, dass sie auf Grundlage ihrer Erkenntnisse handeln, um ihre Patienten zu schützen. Ich stelle mir Klimawissenschaftler oft als planetarische Ärzte vor, die diagnostizieren, was die Erde krank macht – also das Verbrennen fossiler Energieträger und eine Wirtschaft, die den Profit über die Menschen und den Planeten stellt."
Als Wissenschaftler:innen stünden sie daher in der Verantwortung, ihre Stimme zu erheben und mithilfe von zivilem Ungehorsam auf die alarmierenden Folgen der Klimakrise aufmerksam zu machen. Den Planeten zu behandeln, zu retten. "Wissenschaftler gehören zu den am meisten respektierten Stimmen in der Gesellschaft", sagt Thierry.
Friedlicher Protest und Verhaftungen für effektiven Klimaschutz
Wenn Wissenschaftler:innen, die lange Zeit immer nur nüchtern Daten und Fakten vorgestellt haben, plötzlich zu drastischeren Methoden greifen, könnte das für Aufsehen sorgen. Und die Dringlichkeit ihrer Forschungsergebnisse verdeutlichen.
Das jedenfalls hoffen Thierry und die Mit-Autor:innen des Textes.
"Wenn wir nicht bald aufhören, fossile Energien zu verbrennen, werden große Teile des Planeten unbewohnbar werden – und das sogar noch zu meinen Lebzeiten."
Klimawissenschaftler Aaron Thierry
Nachdem Wissenschaftler:innen verhaftet für zivilen Ungehorsam verhaftet wurden, protestieren die Menschen. Bild: imago images / zuma wire
Thierry selbst wurde bei einem seiner Proteste bereits verhaftet. Im April dieses Jahres hatte er sich gemeinsam mit anderen Forschenden an das britische Wirtschafts- und Energieministerium geklebt. Ihr Ziel: Die Pläne zur Ausweitung der Öl- und Gasbohrungen in der Nordsee zu stoppen.
Der Klimawissenschaftler erzählt:
"Ich denke, dass Aktionen des zivilen Ungehorsams wie diese, bei denen wir freiwillig und friedlich eine Verhaftung riskieren, eine besonders wirkungsvolle Möglichkeit der Wissenschaftler sind, Alarm zu schlagen. Und damit zu zeigen, wie besorgt wir über das Ausbleiben entsprechender Regierungsmaßnahmen sind."
Aktionen wie jene von Scientists for Extinction Rebellion kämen zwar nicht für jede und jeden infrage, dennoch gebe es viele Möglichkeiten, wie man seine Stimme erheben und Veränderungen erwirken könne.
Ziviler Ungehorsam als "letzter Ausweg"
"Die Wissenschaft ist sich sicher, dass die bisherigen Störungen nur die Anfangsphase des Klimanotstands sind", sagt Thierry. "Wenn wir nicht bald aufhören, fossile Energien zu verbrennen, werden große Teile des Planeten unbewohnbar werden – und das sogar noch zu meinen Lebzeiten."
Was dann passiert, ist wissenschaftlich längst erwiesen.
Hunderte Millionen Menschen werden aus ihrer Heimat vertrieben oder sterben.
Weil ihre Heimat nicht länger bewohnbar ist.
"Wir können uns keine weiteren Verzögerungen leisten. Die Regierungen müssen uns so schnell wie möglich zu Netto-Null-Emissionen bringen."
Klimawissenschaftler Aaron Thierry
Weltweit brennen Wälder. Tödliche Hitzewellen machen Städte und ganze Regionen unbewohnbar.
Getreide verdorrt auf den Feldern, verschlimmert Hungerkrisen auf der ganzen Welt – die sozialen Systeme kippen, lösen Unruhen und Verteilungskrisen aus. Neue Krankheiten springen auf die Menschen über, die Liste lässt sich endlos weiterführen.
"Wir können uns keine weiteren Verzögerungen leisten", betont Thierry. "Die Regierungen müssen uns so schnell wie möglich zu Netto-Null-Emissionen bringen."
Die Entscheidung, als Wissenschaftler zivilen Ungehorsam zu leisten, hätte Thierry nicht leichtfertig getroffen – sie war "der letzte Ausweg".
Er sagt:
"In Anbetracht der Tatsache, dass Regierungen auf der ganzen Welt weiterhin wissenschaftliche Warnungen ignorieren, fühlte ich mich als Wissenschaftler, der die Fakten über die katastrophale Situation kennt, gezwungen zu handeln."
An der Front der Klimakrise gab es zuletzt viele ernüchternde Nachrichten. Dieses Jahr war – es ist ein fortlaufender Trend – das heißeste seit Anbeginn der Aufzeichnungen. Unwetter mit Hochwasser plagten uns im Laufe des Jahres hier in Deutschland und zuletzt in Valencia, ganz abgesehen von den Hurrikans und Taifunen, die andere Teile der Welt mit großer Heftigkeit heimsuchten.