Am 19. Februar 2020 erschoss ein Attentäter neun Menschen bei einem rassistischen Terroranschlag:
Der rechtsextreme Täter hatte sich gezielt migrantisch gelesene Orte in der Stadt ausgesucht und erschoss dort Menschen, die er für "Ausländer" hielt. Anschließend tötete er seine Mutter und sich selbst. Der Anschlag markierte damit einen neuen Höhepunkt in der langen Geschichte rechtsextremen Terrors in Deutschland.
Was ist seitdem geschehen? Einiges – und doch zu wenig. 2020 war, vom Anschlag in Hanau ausgehend, ein Jahr der Diskursveränderung, durch migrantische Selbstorganisierung und antirassistische Bewusstwerdung, durch Migrantifa und BlackLivesMatter. Gleichzeitig war es ein Jahr der Kontinuität von Strukturen, Narrativen und Stillstand. Wir haben den Stillstand einer Politik erlebt, die gedenkt, ohne zu verändern. Wir haben Narrative einer rassistisch geprägten Gesellschaft gehört, die von Einzeltätern spricht, obwohl der Plural von Einzeltäter schon ein Widerspruch in sich ist. Wir haben Strukturen des Staates bekämpft, die Anschläge wie diesen ermöglichen, Umstände nicht aufklären, Täter schützen.
Das alles ist nichts Neues. Seit 1990 hat rechtsextreme Gewalt in Deutschland 213 Menschen das Leben gekostet. Die Reaktion von Staat und Mehrheitsgesellschaft bleibt dieselbe, ob Rostock-Lichtenhagen oder NSU. Erst kürzlich erfuhren wir neues über die Rolle der Polizei in Hanau: unbesetzte Notrufzentralen, auf polizeiliche Anordnung geschlossene Notausgänge, kurz: das Versagen der staatlichen Schutzpflicht. Gleichzeitig wurden von Polizeicomputern in Hessen Morddrohungen an migrantische und antifaschistische Aktivistinnen und Aktivisten gesendet – Absender NSU 2.0. Wir fragen uns: Auf wessen Seite steht diese Polizei?
Doch die Probleme fangen viel früher an. Staatliche Strukturen und Narrative, die solche Anschläge ermöglichen, entstehen in und aus einer Gesellschaft, die von Alltagsrassismus durchzogen ist. Eine Gesellschaft, in der es offiziell keinen Rassismus gibt oder geben darf, der in den Köpfen und Verhaltensweisen aber immer wieder erkennbar ist. Wir müssen unser Denken und Verhalten kritisch hinterfragen – jeder und jede bei sich selbst. Wenn für uns also aus Erinnerung Veränderung folgen soll, so müssen wir diese immer mehrstufig denken – individueller Wandel bleibt hilflos ohne einen Wandel der Strukturen, struktureller Wandel ist ohne individuelles Bemühen undenkbar.
Was aber ist unsere Rolle dabei als Fridays for Future? Zunächst einmal haben wir, gerade als stark weiß geprägte Bewegung, die Verantwortung der Reflexion, Aufarbeitung und Veränderung auch unserer eigenen Strukturen. Wir haben, in direkter Reaktion auf den Anschlag mit seinen gesellschaftlichen Folgen, autonome migrantische Strukturen und SafeSpaces gebildet, gemeinsam mit solidarischen AntiRa-Gruppen innerhalb der Bewegung Prozesse des Umdenkens angestoßen. Wir streiten für Partizipation und Repräsentation, machen dabei Fortschritt, sind aber auch bei uns an gesellschaftlich und strukturell bedingte Grenzen des Erfolgs gestoßen.
Dabei dachten wir auch inhaltlich weiter. Unser Konzept von Klimagerechtigkeit intersektional zu denken, also unter Einschluss sich überschneidender Unterdrückungsfaktoren, anstatt diese im Namen der maximalen Emissionsreduktion auszublenden und schließlich zu reproduzieren. Wir haben feststellen können: Klimagerechtigkeit muss für uns explizit antirassistisch sein – im Kleinen wie im Großen. Das folgt aus den Taten von Hanau, die uns eine Kontinuität des Terrors einer post-nationalsozialistischen Gesellschaft wieder verstärkt bewusst gemacht haben – und das folgt aus der Idee von Fridays for Future als globale Bewegung, aus dem Charakter der Klimakrise selbst.
Das Prinzip ist dabei so simpel wie erschreckend: Während sehr geringe Teile der Welt für überwältigend große Teile der Treibhausgas-Emissionen verantwortlich sind, leiden jene Staaten, insbesondere in Afrika, Südasien und Südamerika, am stärksten darunter, die kaum Emissionen verursacht haben. Deutschland liegt dabei durch seine frühe und intensive Industrialisierung an der Spitze der historischen Emissionen. Es bewegt sich auf einer Stufe mit den USA und ist pro Kopf für weit mehr Emissionen verantwortlich als beispielsweise China.
Diese doppelte historische Verantwortung der Industriestaaten, durch Industrialisierung und durch Kolonialismus, wird in aktuellen Debatten kaum adressiert. Dabei ist sie nicht vorbei – die Wirkung dieser Asymmetrie von Verursachern und Leidtragenden der Klimakrise entfaltet sich immer stärker. Und die fortbestehenden Abhängigkeiten der Kolonialzeit schlagen sich nicht nur in Emissionen nieder, sondern sind auch ökonomisch und politisch nach wie vor kaum zu übersehen.
Es wird offensichtlich, wie wenig dieser andauernden Ungerechtigkeit in klimapolitischen Debatten Rechnung getragen wird. Stets verweisen Politikerinnen wie Unternehmen auf einen ökonomischen lohnenswerten Klimaschutz, auf eine Strategie der Klimaanpassung. Dabei wäre es nötiger, die Faktenlage zu beherzigen und einen antirassistischen und global gerechten Kampf gegen die Klimakrise anzustreben.
Dabei könnten wir viel gewinnen. Das Verständnis für Zusammenhänge der globalen Klimapolitik dürfte etwa wachsen. Auch auf welchen historischen Fundamenten aktuelle Debatten fußen, könnte uns dadurch klar werden ebenso wie die kritischen Punkte unserer eigenen Lebensweise.
Ein Teil dieser Auseinandersetzung begann nach und durch Hanau. Sie darf nicht verloren gehen. Aber wir müssen diese Auseinandersetzung auch über Fragen von Repräsentation und theoretischer Anerkennung hinausdenken – Hanau bedeutet vor allem, getreu dem Leitsatz "Erinnern heißt Verändern" konkrete, strukturelle Veränderung.
Das gilt für staatliche Strukturen und den Rassismus dieser Gesellschaft, und das gilt für unsere Frage, wie sich antirassistische Klimagerechtigkeit verwirklichen lässt: Wir brauchen einen ernsthaften Diskurs über unsere, klimapolitisch fundierte, Haltung zu Handels- und Entwicklungspolitik, zum Umgang mit (klimatisch bedingten) Fluchtbewegungen, zu globalen Verteilungskonflikten – eine Haltung, die den eigenen (Neo-)Kolonialismus bekämpft, und die erkennt, dass Klimapolitik Grenzen überwinden muss.