Manche Politiker kommen mit viel Glück ins Amt, manche durch mächtige Lobbys. Bei Olaf Scholz handelt es sich um eine Verwechselung. Denn der höfliche Bürgermeister aus Hamburg ist nicht der moderate Politiker, für den man ihn halten möchte. Und das ist ein Problem.
Unser neuer Kanzler tritt so nüchtern auf, man wünscht sich, er würde sich ab und zu wenigstens räuspern – oder irgendeine andere Form einer menschlichen Regung zeigen. Und dennoch: Es funktioniert. Er profitiert davon, dass man sein nüchternes, zurückhaltendes Auftreten mit seiner Politik verwechselt. Und das ist ein Gamechanger in dieser Republik, denn eine Person im rhetorischen Snooze-Modus würde man nie der Radikalität verdächtigen.
In Sachen Klima heißt das: Olaf Scholz kann für "moderaten Klimaschutz" werben und Klimamaßnahmen runterschrauben und wirkt damit, genau wie er selbst, ausschließlich nüchtern und durchdacht.
Kohleausstieg? Ja, natürlich, aber nicht überstürzen. Gasausstieg? Naja, da müssen wir erst mal gucken, was möglich ist. Autobahnen? Leute, ganz ruhig, irgendwie müssen die Menschen ja zur Arbeit kommen. Klingt entspannt, klingt nach Merkel, wählen wir.
Was Herr Scholz – und auch sonst kaum jemand – aber nicht sagt: Wenn Krisen eskalieren, wenn sie exponentiell wachsen, dann funktioniert moderate Politik nicht. In eskalierenden Krisen ist moderate Politik vor allem eines: radikal. Warum das so ist, erleben wir gerade alle am eigenen Leib: Wenn man bis zu einer Inzidenz von 452,2 wartet, um einen Hauch von Bereitschaft für eine Impfpflicht zu entwickeln, ist das nicht moderat und ausgeglichen. Dann treibt man man die Krise schlicht weiter an.
Das versteht, zurzeit leider wortwörtlich, jedes Kind. Diesen Sommer, als das Ahrtal flutete, über 180 Menschen ihr Leben verloren und Milliardenschäden durch Klimafolgen entstanden, zog Olaf Scholz für seinen Wahlkampf durch die Republik und propagierte einen Kohleausstieg bis 2038. Man muss die Klimakrise nicht sonderlich gut durchdrungen haben, um zu verstehen, dass das keine nüchterne Politik ist, sondern zugedröhnte Eskalation.
Und dennoch verfängt die gelassene Herangehensweise an die Krisen. Warum? Weil es doch mal so gut funktioniert hat. Denn: In gewöhnlichen diplomatischen Krisen hat verloren, wer überreagiert, wer in Panik verfällt. Wer gewinnen will, lehnt sich konzentriert zurück. Und wenn man die Ärmel hochgekrempelt, dann erst, wenn es auch wirklich brennt. Es braucht für Herrn Scholz also keine große Verrenkungen, um diesem Land das Märchen zu verkaufen, dass moderate Politik niemals radikal sein kann.
Das Problem: Die Klimakrise tickt anders. Anders ticken müsste also auch die Politik, die es mit ihr aufnehmen will. Sie müsste schneller sein, als alles was wir kennen. Sie müsste Emissionen so konsequent überwachen, als wäre es unser Taschengeld in der vierten Klasse. Und sie müsste in jedem einzelnen Sektor mitgedacht werden. Ein "zu schnelles" Handeln und ein "zu viel" machen gibt es in der Klimakrise nicht. Da gibt es nur das genaue Gegenteil.
Vielleicht hatte man insgeheim gehofft, dass Scholz die Klimakrise nach seiner Wahl so behandeln würde, als sei sie tatsächlich eine existenzielle Krise. Zu früh freuen sollte man sich aber nicht. Ganz aktuell muss die Bundesregierung entscheiden, ob Erdgas und Atomkraft künftig von der EU als "grüne Energien" gelabelt werden. Bisher plädiert Scholz dafür, Gas als nachhaltig zu klassifizieren – und damit den Weg zu ebnen für eine flächendeckende Gasexpansion quer durch Europa. Es wäre ein maximal realitätsferner Start in seine Amtszeit als Bundeskanzler.
Denn dass die Klimabilanz von Erdgas beinahe so schlecht ist wie die von Kohle, ist kein Geheimnis. Und dass für das 1,5 Grad-Ziel in den nächsten drei Jahren möglichst rapide Emissionsreduktionen in Deutschland und der EU stattfinden müssen, ebenfalls nicht.
Das Ziel des Pariser Klimaabkommens ist aber nur dann zu erreichen, wenn wir anfangen, jede fossile Maschine – ob Ölheizung oder Gas-Pipeline – als die letzte zu begreifen. Auf sie darf nie wieder eine weitere fossile Maschine folgen. Stattdessen wird man Stück für Stück, und zwar so schnell wie möglich, alles durch nicht-fossile Alternativen ersetzen müssen.
Das Land unterliegt einer gewaltigen Verwechslungsgefahr. Hinter diesem so herrlich moderaten neuen Kanzler steht in Sachen Klima eben rein gar nichts Moderates. Die Wahrheit, die auch Olaf Scholz der Republik unterbreiten sollte, ist nämlich die: "Wir haben keine Wahl zwischen etwas mehr oder etwas weniger Klimaschutz. Wir haben eine Wahl zwischen radikalen Emissionsminderungen in den nächsten Jahren, oder einem baldigen Meet and Greet mit diversen Klimakipppunkten, von denen wir nur das Schlimmste erahnen können."
Noch kann man einen Kurs wählen, der uns aus den Krisen rausbringt. Ich fürchte allerdings, dass man sich nicht auf Herrn Scholz allein verlassen können wird. Aber natürlich hoffe ich, eines Besseren belehrt zu werden. Bis es aber soweit ist, findet man uns auf der Straße.