Niederländisches Naturprojekt endete in Katastrophe – was wir daraus lernen können
In den 1980ern wollten niederländische Ökolog:innen wissen, was passiert, wenn man die Natur einfach machen lässt. Pure Wildnis also mitten im dicht besiedelten Europa.
Im damals neu geschaffenen Gebiet Oostvaardersplassen, zwischen Amsterdam und Lelystad, sollten wilde Pferde, Rinder und Hirsche also wieder "Natur pur" ins Land bringen.
Was logisch klang, trat auch ein: Die Natur nahm ihren Lauf, seltene Vögel siedelten sich an und das Projekt wurde international gelobt. Rewilding, also die Rückkehr zur Wildnis, war das neue große Ding.
Dieser Ansatz wurde als Grundlage für die Wiederverwilderungsbewegung in Europa angesehen. Auf den ersten Blick erscheint das sinnvoll: Die Natur selbst weiß, was sie braucht. Das Eingreifen der Menschen war nicht notwendig.
Katastrophenwinter in Europa
Doch dann kam das, worauf niemand vorbereitet war: Die Wintersaison 2017/18 war nicht nur extrem kalt, sondern dauerte lang. Das hatte schlimme Folgen für das Naturschutzgebiet: Auf 56 Quadratkilometern lebten mittlerweile tausende große Pflanzenfresser.
Das Gras war abgefressen, die Bäume kahl, das Futter weg und kein Ende dieser Phase in Sicht. Was folgte, war brutal: Tausende Tiere verhungerten oder mussten erschossen werden.
Der Mensch griff also doch wieder ein, um das Elend zu beenden. Pendler:innen sahen von den Zügen aus hunderte Kadaver im Schnee liegen. Tierschützer:innen protestierten, Ranger:innen wurden bedroht, das Projekt galt als gescheitert.
Neustart des Rewildings in den Niederlanden
Sieben Jahre später ist von der Katastrophe keine Spur mehr, wie BBC-Journalistin Isabelle Gerretsen berichtet: "Statt einer kargen Graslandschaft erlebe ich eine lebendige Natur mit vielfältigem Vogelgesang, klaren Wasserflächen und grünen Baumgruppen. Kaum zu glauben, dass wir nur 40 Minuten von Amsterdams Zentrum entfernt sind."
Aber was ist in Oostvaardersplassen passiert? Wie konnte sich die Natur wieder erholen? Die Ereignisse von 2018 führten zu einer Veränderung im Management: Die Ranger:innen greifen nun aktiv ein, um das Verhungern zu verhindern.
Sie pflanzen Bäume, füttern die Tiere bei Bedarf und halten die Gesamtzahl der Tiere unter Kontrolle. Doch das stößt auf Kritik, denn die eigentliche Idee, also die Natur sich selbst zu überlassen, ist somit nicht mehr gegeben. Ist das Projekt also kläglich gescheitert?
Die große Rewilding-Frage in den Niederlanden
Wenn jemand weiß, was in den Oostvaardersplassen schief und wieder gut gelaufen ist, dann Frans Vera. Der niederländische Ökologe gilt als einer der Väter des Rewilding-Gedankens.
Bei der Rewilding Our World Conference 2025 erklärte er, warum wir Natur grundlegend falsch verstehen. "Rewilding ist kein romantischer Traum, sondern ein Systemansatz," sagt Vera. "Es geht nicht um einzelne Arten oder Maßnahmen, sondern darum, wie alles miteinander verbunden ist."
So sei die Population der großen Pflanzenfresser in Oostvaardersplassen zwischen 2005 und 2015 explodiert und habe die Vegetation stark verringert. Das Problem sei, dass viele nur das "Bild" von Natur wahrnehmen, etwa die Fotos von verhungernden Tieren in den Oostvaardersplassen, aber nicht den "Film", also den ständigen Wandel und die Dynamik, die dahinterstehen.
Für den Ökologen ist klar: "Natur bedeutet Veränderung und das ist keine Bedrohung, sondern ihre größte Stärke."
Das "Massensterben", das im Winter 2017/18 stattfand, war laut Vera nicht unerwartet. Es war eine Art natürliche Korrektur, denn die Todesfälle der Tiere in den Jahren davor lagen bei fast null. "Wer das ignoriert, versteht das System nicht", betont der Ökologe. Vera kritisiert, dass auch heute noch oft mit einem starren, idealisierten Naturbild gearbeitet wird.
Ein Beispiel sind die aktuellen Debatten über die Zukunft der Oostvaardersplassen, wobei einige Stimmen fordern, das gesamte Gebiet in ein Feuchtgebiet umzuwandeln, ohne Rücksicht auf die zehntausenden Graugänse, die dort eine zentrale Rolle spielen.
Rewilding-Ansätze in Deutschland
Auch in Deutschland wird längst ausprobiert, wie viel Freiheit man der Natur geben kann, allerdings vorsichtiger als in den Niederlanden.
Im Projekt REWILD_DE des Helmholtz Centre etwa erforschen Wissenschaftler:innen im Oderdelta, wie Wiederverwilderung in einem dicht besiedelten Land überhaupt funktionieren kann.
Es geht hier weniger um das radikale "Nichteingreifen", wie einst in den Oostvaardersplassen, sondern um das vorsichtige Austesten von Grenzen: Wo kann Natur sich selbst regulieren und wo braucht sie Unterstützung?
Noch weiter geht die Initiative eMission-X, die Land aufkauft, um es komplett aus der Nutzung zu nehmen. Keine Landwirtschaft, kein Holzeinschlag, die Fläche gehört also wieder der Natur.
Das klingt konsequent, sorgt aber auch für Diskussionen: Wie viel unkontrollierte Wildnis verträgt ein Land, in dem jeder Quadratmeter verplant scheint?
Während also die Niederlande mit ihrem Rewilding-Experiment schon einmal an die Grenze des moralisch Vertretbaren gestoßen sind, bewegt sich Deutschland noch im vorsichtigen Modus.
Doch die Richtung ist klar: weg vom statischen Bild der Natur, hin zu einem System, das Veränderung nicht als Scheitern, sondern als Stärke versteht.