Mit Speichelsturz hingen vor einigen Wochen die versammelten Fußballfans vor ihren Smartphones. Auf Social Media kursierte ein Video, in dem Leverkusens Cheftrainer Xabi Alonso sein fußballerisches Können noch einmal demonstrierte.
Mit der Präzision eines Buchhalters und der Grazie einer Primadonna spielte er seinen Schützlingen die Pässe zu wie einst zu seiner Blütezeit in Madrid. Ein eigentlich unscheinbarer Ausschnitt aus dem alltäglichen Trainingsgeschäft der Werkself, der das Erfolgsrezept aber doch treffend versinnbildlicht: Bayer Leverkusen ist sexy.
Am Sonntag (17.30 Uhr, Dazn) spielt der aktuelle Tabellenführer der Bundesliga nun gegen Borussia Dortmund, die diesem Attribut mittlerweile abgeschworen haben. BVB-Trainer Edin Terzić gab zuletzt die Parole aus: "Weniger sexy, mehr Erfolg." Mit Borussia Dortmund und Bayer Leverkusen treffen nicht nur zwei Glaubenssätze aufeinander. Entlang der Dortmunder Wankelmütigkeit lässt sich der Leverkusener Höhenflug erklären.
Beide Mannschaften mussten im Sommer einen Wandel vollziehen und ihren Kader neu aufstellen. Die Positionen, auf denen Verbesserungspotenzial ausgemacht wurde, waren auf beiden Seiten identisch: Außenverteidigung, zentral-defensives Mittelfeld und Mittelsturm.
Sebastian Kehl, der beim BVB als Sportdirektor die Zügel beim Transfergeschehen in der Hand hat, musste vor allem den Abgang von Jude Bellingham kompensieren und einen Ersatz für Raphaël Guerreiro finden. Im Sturm sollte zudem eine Alternative zu Sébastien Haller her.
Es kamen: Felix Nmecha, Marcel Sabitzer, Ramy Bensebaini und Niclas Füllkrug. Vorwiegend gestandene Spieler, die sofort helfen können – so zumindest die Hoffnung.
Nach zwölf absolvierten Spieltagen lässt sich bereits ein vorzeitiges Resümee ziehen: Bis auf Füllkrug konnte bislang keiner konstant gute Leistungen bringen. Von Verletzungen zurückgeworfen, fand niemand so recht in einen Rhythmus. Einigen scheint auch schlicht die Qualität zu fehlen.
Dortmund hat sich damit ein Stück weit von der eigenen Transferpolitik emanzipiert: Anstatt junge Talente zu holen, die in ein paar Jahren als Superstars gewinnbringend verkauft werden können, sollten Verlässlichkeit und Beständigkeit Einzug erhalten. Knapp 75 Kilometer südöstlich ging eben jenes Konzept voll auf.
Nach einer katastrophalen Hinrunde der vergangenen Saison wurden in Leverkusen schon früh die Schwachstellen der Mannschaft erörtert und im Sommer entsprechend nachgebessert.
Alejandro Grimaldo ist der spielmachende Linksverteidiger, der dem BVB seit dem Abgang von Guerreiro fehlt. Victor Boniface übertrifft Füllkrug und Haller in puncto Dynamik und Dribbelstärke. Und Granit Xhaka vereint in Personalunion das, was sich der BVB von Sabitzer und Nmecha erhofft hat: Einen aggressiven Mittelfeldstrategen, der noch dazu mit seinen Anweisungen das Spiel lenkt. Auch Neuzugang Jonas Hofmann fügte sich nahtlos in das Leverkusener System ein.
Woran hat's gelegen, fragt man sich. An Boniface und Xhaka war auch der BVB interessiert. Man entschied sich anders. In strategischen Fragen war Borussia Dortmund ohnehin zuletzt häufiger uneins. Im Sommer scheiterte so der geplante Transfer von Ajax' Edson Alvarez am Veto von Edin Terzić. Immer häufiger werden interne Querelen kolportiert. Den Nimbus der Unantastbarkeit hat der BVB-Trainer schon lange nicht mehr.
Nach dem geplatzten Meisterschaftstraum stand Edin Terzić weinend vor der Südtribüne. "Echte Liebe", wie es im Vereinsmotto heißt. Das immerhin hätten die Bayern nicht, seufzten einige Dortmund-Fans, die sich alsbald ganz gut in der Rolle des tragischen Helds zurechtfanden, wehmütig.
Das sei der "schlimmste Tag in meinem Leben" gewesen, sagte BVB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke kürzlich bei der Jahreshauptversammlung. "Das kann einen Verein zerstören." Sich in der eigenen Wagenburg verschanzend klagte Watzke, man sei seit Monaten einem "medialen Trommelfeuer" ausgesetzt, das er "ewig nicht mehr erlebt" habe. Er müsse sich jede Woche aufs Neue vergewissern, "dass wir nicht gegen den Abstieg spielen".
All den jahreshauptvesammlungstypischen Pathos abgezogen, trifft Watzke in der Tat einen Kern. Zwar ist der BVB zehn Punkte von der Tabellenspitze entfernt, in der Champions League aber eindrucksvoll Gruppenführer. Nur hat man beim BVB zuweilen das Gefühl, der Verein ist nur ein abgefälschtes Gegentor in der letzten Minute der Nachspielzeit davon entfernt, in eine Identitätskrise zu stürzen. Oder andersherum wieder von der Meisterschaft zu träumen.
"Mit uns wird es definitiv nicht langweilig in dieser Saison", formulierte es Terzić euphemistisch nach dem Sieg gegen Gladbach. So kann man es auch bezeichnen. Noch immer lässt sich aber beim BVB keine klare Spielidee erkennen, gerade der Spielaufbau weist häufiger Baustellen auf. Es sind viele Kleinigkeiten, die sich zum Gesamteindruck eines fehlenden Konstrukts vervollständigen.
Sabitzer und Can fehlt die Qualität, einen Angriff aus der Tiefe zu initiieren. Die Außenverteidiger weisen regelmäßig individuelle Schwächen auf oder kommen schlicht nicht in die Zweikämpfe. Dass auch der Matchplan häufig nicht abgestimmt ist, bemerkte zuletzt Niclas Füllkrug.
"Wir haben nicht den perfekten Ansatz gehabt, um dieses Spiel heute zu spielen", sagte Füllkrug nach der Niederlage gegen Stuttgart. Man habe gegen viele gute Mannschaften "teilweise unsere Grenzen aufgezeigt bekommen". Später relativierte er seine Aussagen, dennoch schien er mit der Trainerkritik einen Punkt getroffen zu haben. In Leverkusen werden unterdessen andere Töne angeschlagen.
"Für mich ist es wie ein Traum, unter ihm spielen zu dürfen", sagte Granit Xhaka über seinen Trainer Xabi Alonso. Florian Wirtz sprach davon, dass es schön sei, "so eine Legende als Trainer zu haben". Und Simon Rolfes attestierte Alonso, er habe bereits eine "große Verbundenheit zum Club entwickelt".
Was Alonso von seinen Spielern möchte, hat Hand und Fuß. Durch ihr überlegenes Positionsspiel und nahezu fehlerfreie Ballzirkulation dominieren sie das Spiel in allen Phasen. Mit situativem, teilweise sehr hohem Gegenpressing wird Ballbesitz erzwungen. Kurz: Es lässt sich ein klares Konzept erkennen. Das wird auch von der Konkurrenz honoriert.
"Es wird anspruchsvoll für uns, die Leverkusener da oben noch wegzuholen", sagte Bayern-Funktionär Karl-Heinz Rummenigge vor Kurzem. Borussia Dortmund, die langjährige Nummer zwei in Deutschland, wird aktuell als ärgster Bayern-Konkurrent entthront, womöglich gar überholt. Und das ausgerechnet vom ewigen "Vizekusen". Der Titel-Aspirant vom Aspirin-Hersteller. Die Frage wird sein, wie nachhaltig der Erfolg ist.
Bislang hat Leverkusen 34 von 36 möglichen Punkten geholt. Und das mit fast immer mit demselben Personal. In acht Spielen hat Alonso dieselbe Startelf auf den Platz geschickt. Eine Sollbruchstelle der personellen Konstanz ist aber schon vorprogrammiert.
Mitte Januar steigt der Afrika-Cup und Leverkusen ist das Team, das in der Bundesliga mit fünf Profis die meisten Spieler abstellen wird.
Dortmund steckt unterdessen schon mittendrin im Härtetest. Auf das Spiel gegen Leverkusen folgen Partien gegen Stuttgart, Leipzig und Paris. Das Aufeinandertreffen beider Mannschaften am Sonntag wird für beide einen Realitätscheck bedeuten, wobei Leverkusen als klarer Favorit in die Begegnung gehen wird. Schon vor einigen Wochen brachte Leverkusen-Torwart Lukáš Hrádecký das Erfolgsgeheimnis auf den Punkt: "Der Zug hat keine Bremsen."