Ein Buch schreiben? Daran hatte Lena Cassel nie gedacht. Als der Verlag sie vor mehr als zwei Jahren fragte, ob sie ein Buch über Fußball schreiben wolle, sagte sie erst mal ab. Keine Chance. Bis zur geplanten Veröffentlichung war kaum Zeit. Das hätte sie nicht geschafft. Dann schrieb sie doch – in Ruhe und über sich selbst. Über Geschichten, wie sie sagt, die es wert sind, erzählt zu werden.
watson: In deinem Leben gab es einige Wendepunkte. Der Tag, an dem du für sternTV einem Nilpferd namens Ernie die Zähne putzen solltest, war einer davon. Was lief da schief?
Lena Cassel: In dem Moment habe ich gemerkt, dass ich vom Weg abgekommen bin. Ich wollte nicht um jeden Preis vor die Kamera, nicht um einem Nilpferd die Zähne zu putzen. Wenn überhaupt, um für das zu stehen, was ich bin. Und das war zu großem Teil immer Fußball.
Dann folgte der Entschluss, dein altes Leben in Köln hinter dir zu lassen. Du bist zu deiner Freundin nach Berlin gezogen – warum?
Es war zu viel. Ich wurde den vier Jobs, die ich hatte, nicht mehr gerecht. Also habe ich gesagt, wie immer in meinem Leben: "All or nothing". Klingt wie so ein komischer Kalenderspruch, aber wenn ich meine letzten Jahre rekapituliere, war es genau das. In dem Jahr, in dem ich in Köln alles hinter mir gelassen habe und nach Berlin gezogen bin, war es erstmal nichts. Davor alles.
Dir wurde Burn-out diagnostiziert. Dein Leben fühlte sich schwer an – bis dein Hund Fabio kam, schreibst du. Was konnte er dir geben, was dir kein Mensch je geben konnte?
Tiere sind bedingungslos und das ist etwas, was mir die Menschen in meinem Leben nie gegeben haben. Beziehungen waren für mich immer an eine Bedingung geknüpft: Ich muss Leistung bringen. Bei Menschen hatte ich nie das Gefühl, dass ich genug bin. Fabio liebt mich, egal was ich mache. Er hat mir zu mehr Zufriedenheit verholfen.
Und trotzdem warst du süchtig nach Anerkennung. Von wem wolltest du am meisten Applaus haben?
Unterbewusst ging es mir darum, dass mich Menschen sehen, die mir ganz nah waren. Und um gesehen zu werden, musste ich selbstbewusster, lauter, mutiger sein, als ich eigentlich bin. Auch wenn ich in den vergangenen Jahren viel Anerkennung bekam, bleibt da eine Leere, die sich nicht von außen füllen lässt. Die Antworten darauf liegen in meinem Inneren.
Weil du zu allem Ja gesagt hast, musstest du kapitulieren. Hast du mittlerweile gelernt, Nein zu sagen?
Es fällt mir schwer, Jobs abzulehnen. Auch weil ich es als Privileg empfinde, nicht nur zu moderieren, sondern auch nach meiner Meinung gefragt zu werden. Wenn eine Frau in einer Talkshow sitzt, die plötzlich über den abkippenden Sechser philosophieren kann, wird vielleicht irgendwann nicht nur ein Platz mit einer Frau besetzt, sondern auch ein zweiter. Ich traue mich nicht, Nein zu sagen, weil ich eine Verantwortung für andere Frauen habe.
Woher kommt dieses Gefühl?
Irgendwann habe ich gemerkt, ich kann wirklich einen Unterschied machen. Nicht nur bei Frauen, sondern auch bei Männern, denen gefällt, wie ich Dinge betrachte. Durch die positive Resonanz habe ich diese Verantwortung plötzlich gespürt. Ich war stark genug, diesen Weg trotz Gegenwind zu gehen – einen Weg, den sich andere Frauen vielleicht nicht getraut hätten. Und vielleicht ist es jetzt an mir, den Wind abzufedern, damit der Weg in Zukunft nicht so stürmisch ist.
Fragst du dich trotzdem noch manchmal, ob du einen Job nur bekommen hast, weil du eine Frau bist?
Natürlich. Ich kriege ganz viele Jobs nur, weil ich die Frau bin. Ich würde mir wünschen, dass ich sie primär bekomme, weil ich wahnsinnig kompetent bin. Es ist ein Zusatz, und das ist wichtig zu sagen: Ich bekomme Jobs nicht, weil ich eine Frau bin. Sondern, weil ich eine kompetente Frau bin.
Andere sagen, eine Frauenquote bedeute: mehr Geschlecht, weniger Leistung.
Ich glaube nicht, dass eine Quote nur unqualifizierte Frauen in die erste Reihe spült. Vielmehr würde es für viele kompetente Frauen die Möglichkeit eröffnen, endlich in der ersten Reihe zu stehen. Da kommen sie sonst nicht hin, weil da andere Typen stehen.
Ärgert es dich, manchmal die Quotenfrau zu sein?
Ich finde nicht, dass wir Veränderungen kreieren können, wenn wir verbittert werden. Zu sagen, ich setze mich da nicht hin, weil ich weiß, dass ich der eine Frauenplatz bin – so what. Interessiert mich nicht, dann bin ich das halt. Dann nutze ich meine Bühne und bin perfekt vorbereitet. Wenn ich diesen Platz bekomme, werde ich ihn auch ausfüllen und zeigen, dass es richtig war, ihn mit einer Frau zu besetzen.
In deinem Buch stecken auch jede Menge Selbstzweifel. Warum hast du entschieden, dich verletzlich zu zeigen?
Wir reden immer darüber, dass wir relatable sein müssen. Das werden wir nicht, wenn wir uns nur am Spielfeldrand ablichten und sagen, wie geil alles ist. Sich so zu zeigen, wie man ist, gibt mir die Möglichkeit, in meinem Job zu 100 Prozent glaubwürdig zu sein. Nur dann kannst du alle Menschen erreichen. Wenn wir uns demaskieren, können wir auch wieder zu einer empathischen Gesellschaft werden.
Ist Fabian Reese ein Spieler, der sich demaskiert?
Fabian Reese verdeutlicht, dass kein Mensch in eine Schublade passt. Männer können lackierte Fingernägel haben, Frauen können kurze Haare tragen. Wenn wir mehr Individualität zulassen, gibt es mehr Freiheit für alle. Fabian Reese gibt dem Fußball neue Perspektiven, die er unbedingt braucht, um weiterhin relevant zu bleiben. Wir sind eine diverse Gesellschaft und der Fußball war immer der Spiegelbild dessen. Wenn er das nicht mehr ist, wird er irgendwann nicht mehr diesen Hebel haben.
Wenn der Fußball ein Querschnitt unserer Gesellschaft ist, die Gesellschaft aber immer weiter nach rechts rückt – tun es die Stadien auch?
Ich habe nicht das Gefühl, dass in den Stadien rechtes Gedankengut geteilt wird. Ganz im Gegenteil. Ich glaube eher, dass ein Verein unsere Demokratie schützen kann, weil es eine analoge Begegnungsstätte ist, wo man auch Menschen trifft, mit denen man normalerweise vielleicht keinen Kontakt hat. Da gehört man zusammen, egal wer man ist. Und darauf sollten wir uns immer wieder besinnen. Das ist die große Kraft des Fußballs.
Warum fühlst du dich im Fußball so geborgen?
Ich habe dem Fußball nahezu alles zu verdanken. Er ist der rote Faden in meinem Leben. Wenn wir so oft über das herzlose Milliardengeschäft Fußball sprechen, hilft es auch, sich darauf zu besinnen, was der Fußball in ganz vielen Leben Positives bewirken kann. Und das war es bei mir. Er hat mir zu meiner Sexualität verholfen, war Familienersatz und die Antwort auf die Frage: "Wo gehöre ich dazu?".
Du bezeichnest den Fußball als deinen Safe Space. Siehst du diesen in Gefahr?
Ich bin sehr privilegiert mit dem Fußball aufgewachsen, für mich war da nie eine Bedrohung. Das geht ganz vielen Frauen anders. Teilweise stellt der Weg zum Stadion und die Kombination aus Alkohol und Männern für viele eine Bedrohung dar. Wir sollten uns daher alle an die Nase packen. Primär sehe ich aber Männer in der Verantwortung. Männer, die ihre Aufgabe darin sehen, Minderheiten in diesem Testosteron gesteuerten Habitat zu beschützen. Solche Männer gibt es. Die sollten nur jetzt endlich mal den Mund aufmachen.
Du hast mal gesagt, dein Lebensziel ist es, frei und unabhängig zu sein. Hast du das erreicht?
Ich bin immer noch sehr getrieben. Stille auszuhalten fällt mir schwer, weil ich das Gefühl habe, jedes Jahr muss krasser werden. Ich möchte viel können, aber nichts wollen. Ich glaube, das kann mir eine Freiheit bescheren: Dass ich mich nicht mehr von meinen Ängsten und meinen Traumata getrieben fühle, sondern frei und unabhängig Dinge entscheiden kann. Ohne das Gefühl zu haben, etwas machen zu müssen, um gesehen zu werden.