Es gibt diese Spieler, bei denen weiß man gar nicht, wo man bei einem Rückblick überhaupt anfangen soll. Mats Hummels selber schaut sich in seinem am Freitag geposteten Abschiedsvideo einen Zusammenschnitt seiner Karriere-Highlights an, beginnend mit seinem ersten BVB-Einsatz.
Damals ersetzt er Antonio Rukavina in der Startelf, so hört man im Video. Rukavina, ein Name, den ich als BVB-Fan noch mit einem ganz anderen Zeitalter verbinde: dem des Mittelmaßes, des Ranzfußballs, der Pflaumen-Trainer, Rukavina spielte noch unter Kult-Coach Thomas Doll. Generell war vieles Kult zu der Zeit.
Doch erst was danach begann, war wirklich geil. Und sorry, "geil" ist so ein cringer Begriff, aber das beschreibt die Ära von Jürgen Klopp, Mario Götze, Łukasz Piszczek, Sven Bender, Neven Subotić und eben auch Mats Hummels so trefflich. All diese Menschen machten aus dem BVB zwar eine überaus erfolgreiche Truppe. Doch nicht nur das.
Allein der Erfolg der Klopp-Ära würde das Dortmunder Nostalgie-Karussell der vergangenen Jahre nicht erklären. Was den BVB-Fans zuletzt das Leben zur Hölle macht, ist stattdessen die Sehnsucht nach geilen Charakteren. Ein solcher ist Mats Hummels.
Wie der BVB in den vergangenen zwei Saisons einmal fast Meister werden konnte und einmal beinahe Champions-League-Sieger, das kann sich kein Dortmund-Fan und halbwegs kenntlicher Fußball-Beobachter erklären. Um (Beinahe-)Erfolg zu haben, muss man doch eigentlich eine Spielidee nach vorne haben. Doch das gab es unter Ex-Trainer Edin Terzić einfach nicht. Stattdessen gab es Hummels.
Dass der BVB den Ball so zahlreich im gegnerischen Tor unterbrachte, lag an vielen Einzelaktionen von Mittelfeldmotoren wie Jude Bellingham, aber auch an den möglicherweise besten Außenrist-Skills, die je ein Verteidiger hatte (wer diesen einen legendären Außenrist-Freistoß von Franz Beckenbauer noch in Erinnerung hat, möge mir zuliebe gerne schweigen).
Das Markenzeichen von Hummels findet daher auch oft den Weg in sein gepostetes Nostalgie-Video. Außenrist-Pässe von Hummels waren beizeiten Dortmunds größte Waffe im Angriff. In der Verteidigung hingegen hielt er besonders in der vergangenen Champions-League-Saison mit seinen Grätschen – und das im Alter von 35 Jahren – den Laden dicht.
Grätsche: 99, Außenrist: 99. So hätte Hummels' Fifa-Card regelmäßig aussehen müssen. Mats Hummels ist ein Fußball-Gott, da kann mir niemand was anderes erzählen. Doch das liegt auch an einem anderen Wert. Charakter: 98.
Hummels hatte eine riesige Hypothek, die am Ende nur einen Punkt Abzug macht. Dass diese in schwarzgelben Gesprächen über ihn fast nie zur Sprache kommt, ist absurd, zeigt aber seinen Stellenwert: Hummels kam aus Bayern nach Dortmund. Und er ging den Weg zurück, weil er bei uns keine Titelchance sah. Für viele ein Betrug. Dann die Rolle rückwärts, Hummels ging erneut ins Ruhrgebiet.
Doch ihm verzeiht man es. Zum einen weil Hummels gleichzeitig immer den Eindruck machte, als würde er seine Rolle als Fußballer auf und außerhalb des Platzes ehrlicher reflektieren können als seine Kollegen. Er pushte, er grätschte – und wenn er einen schlechten Tag hatte, war er der erste, der das am Mikrofon auch zugab.
Zum anderen nahmen ihm alle ab, dass Hummels – erneut so ein Cringe-Attribut – den Verein "liebte". Das sieht man nicht erst jetzt im Abschiedsvideo. "Ich kämpfe gerade mit den Emotionen", erklärt Hummels. Seine Augen glänzen, als er sich die Bilder des Wunders gegen Malaga (don't get me started) anschaut. Kurz vor dem Schlusspfiff: "Jetzt kommt Schmelle reingeflogen. Eine meiner liebsten Szenen aus meiner Karriere." Er merke noch mehr, wie viel ihm das alles bedeutet, wenn er sich das so anschaue.
Und auch ich als BVB-Fan bin angefasst. Hummels und auch Marco Reus haben Dortmund zwar schon vor Monaten verlassen, doch verarbeitet habe ich das noch nicht. Hummels' Ankündigung holt die Gefühle wieder hoch, ich ärger mich wie wild. Beide hatten noch die fußballerische Klasse, um zu bleiben, beide sind zudem so wichtig für den Verein.
"Lasst mich doch nicht allein", dachte ich mir insgeheim. "Allein" mit – seufz – all den Unsympathen und Langweilern beim BVB. Das ist natürlich übertrieben. Ein Nico Schlotterbeck erspielt und erkämpft sich langsam immer mehr die Rolle eines Fan-Lieblings, auch ein Julian Ryerson haut sich in jeden Ball rein. Doch dann hört es schon auf.
Emre Can sorgt mit seiner wilden Spielweise bei mir für Mixed Feelings. Julian Brandt macht mal freche Ansagen, aber irgendwie steckt doch nicht viel dahinter. Dass der "wertebewusste" BVB einen Felix Nmecha in seinen Reihen hat, der durch das Liken transphober Posts auffiel, enttäuscht mich ebenfalls.
Mir ist auch klar, dass Vereinslegenden wie Hummels nicht von jetzt auf gleich auftauchen. Und zudem ist der Verein doch größer als einzelne Spieler – oder?
Diese unter Fans felsenfeste Wahrheit beginnt bei mir zu wackeln. Das ist es, was ich beim Schauen der Hummels-Videos vor allem empfinde. Ich bekomme Angst, dass meine Liebe zum BVB doch nur eine Liebe zu bestimmten Spielern war. Götze, Subotić, Bender und nun auch Reus und Hummels sind alle weg und bald auch in Rente.
Ich fremdle mit meinem Verein. Doch damit werde ich wohl leben müssen. Mit den Rheinmetall-Deals und leeren Werte-Bekenntnissen. Mit arroganten Ansagen, während man im Mittelfeld rumdümpelt. Wofür der BVB stehen will, ist mir derzeit unklar.
Wofür Mats Hummels stand und steht, umso mehr. Er kann stolz sein auf eine Karriere mit Meistertiteln, Pokalsiegen, dem Weltmeistertitel 2014. Und vielleicht kann er mir ja doch noch meine BVB-Leidenschaft zurückgeben: Und als Trainer in ein paar Jahren zurückkehren. Ich fahr' schon wieder Dortmunder Nostalgie-Karussell.