Jude Bellingham muss sich derzeit fühlen wie in einem schlechten Film. Noch direkt vor dem Start der EM war er der absolute Hoffnungsträger Englands und der Spieler, um die alle anderen Nationen das Team beneiden. Wenige Wochen später wird er als Sinnbild für eine vermeintliche Krise der Mannschaft herangezogen.
Vermeintliche Krise, denn: England steht im Viertelfinale des Turniers. Es könnte schlechter laufen, sagen die harten Fakten. Hört man jedoch zahlreichen Expert:innen im TV zu, entsteht der Eindruck, es habe im Laufe der Menschheitsgeschichte kein schlechteres Team gegeben. Langsam wird es albern.
Die Berichterstattung in Deutschland rund um die Three Lions ist mittlerweile nur noch schwer zu ertragen. England hat auf dem Papier die vermutlich beste Offensive des Turniers, doch Tore (oder auch nur ansehnliche Spielzüge) sind Mangelware. Dass dennoch Spiele gewonnen (oder zumindest nicht verloren) werden: offenbar egal. Und sogar ärgerlich für manche.
Markus Babbel erklärt im "RTL EM-Studio", er findet alle Spiele toll, bis auf die mit englischer Beteiligung. Und Christoph Kramer frönt seinem England-Hass im ZDF mittlerweile regelmäßig. Vor dem Achtelfinale tönte er:
Upps! Da lag der Lieblings-Fußballexperte der Deutschen wohl krachend daneben. Tatsächlich war die Partie zwischen England und der Slowakei eines der spannendsten Spiele bislang. Gerade weil die Briten wieder einmal strauchelten, lässt sich der Doppelschlag von Bellingham und Kane in der Nachspielzeit beziehungsweise Verlängerung als Machtdemonstration bezeichnen:
Jetzt hören: "Toni Kroos – The Underrated One". Folge 1 des Podcasts über den DFB-Star gibt es hier:
Minuten vor dem Ausgleich hatte die ZDF-Kommentatorin Claudia Neumann festgestellt, Bellingham und Kane seien "stehend K.o." und hätten schon vor Minuten ausgewechselt werden müssen. Kurz darauf machen genau diese beiden den Unterschied – und geben dem viel gescholtenen Coach Gareth Southgate Recht.
Apropos Southgate: Gegen ihn richtet sich die Kritik hauptsächlich. Er habe keinen Plan, verschwende das Offensiv-Potenzial von Spielern wie Phil Foden, ist allerorts zu lesen. Die Stars dagegen werden mitunter geradezu bemitleidet. Nun, die Statistik (die sicherlich weniger lügt als die Emotionen von TV-Expert:innen) spricht nicht gerade gegen Gareth Soughgate.
Genauer gesagt hat er seit dem Sieg über die Slowakei mehr K.o.-Spiele in großen Turnieren gewonnen (7) als alle England-Manager seit 1966 zusammen (6). Das muss man erstmal sacken lassen.
Dabei gab es, vor allem in den letzten 30 Jahren, viele englische Teams, die mit noch größeren Namen gespickt waren als das jetzige. Steven Gerrard, Frank Lampard, John Terry, Rio Ferdinand, Michael Owen, David Beckham – nicht einmal mit dieser goldenen Generation war etwas für die Briten drin. Aber die wurde eben auch "nur" von Sven-Göran Eriksson trainiert.
Ihm jegliche Kompetenz abzusprechen und jeden Erfolg als Zufall abzutun, ist im Hinblick darauf jedenfalls geradezu absurd. Vielmehr scheinen sich Expert:innen (nicht nur, aber vor allem in Deutschland) in diesem Einzelfall einer simplen Erkenntnis zu verweigern: Erfolgreicher Fußball ist nicht immer schön anzusehen.
Dabei gibt es so viele und auch drastischere Beispiele bei dieser EM. Die stockende Tor-Maschine Frankreich hat noch keinen einzigen Treffer aus dem Spiel heraus erzielt, doch Kylian Mbappé und seine Truppe werden im ZDF als "Minimalisten" geadelt.
Andere Superstars wie Kevin De Bruyne oder Robert Lewandowski rissen auch nicht viel, aber nur bei Harry Kane (immerhin zwei Turnier-Tore) werden grundsätzliche Zweifel an der Fitness angemeldet. Und England brauchte auch noch nicht die lebensfremde Entscheidungshilfe des VAR, um ein Spiel für sich zu entscheiden.
Komplett in Vergessenheit geraten zu sein scheint im Übrigen der EM-Triumph der Griechen, die sich 2004 zum Triumph mauerten, und bei ehrlicher Betrachtung spielte auch Italien 2021 absolut keinen berauschenden Fußball. Das sorgte hierzulande allenfalls vereinzelt für Naserümpfen, aber bei Weitem nicht für die Empörung, die England momentan entgegenschlägt.
Die alte Rivalität zwischen Deutschland und England, speziell beim Fußball, mag bei alldem eine große Rolle spielen und sitzt vielleicht einfach zu tief. Dann aber darf sich niemand wundern, wenn Jude Bellingham mit Einzel-Aktionen die Antwort auf dem Platz gibt – und mit seinem "Who else?"-Jubel zurückprovoziert.