In unserer Serie "Unvergessen" blicken wir regelmäßig auf große Ereignisse der Sportgeschichte zurück. Diesmal schauen wir auf die Geschehnisse rund um das Finale der Handball-WM Anfang Februar 1978.
Das WM-Turnier 1978 endete für die Handballer aus der DDR versöhnlich. Einen Tag vor dem Finale siegte das Team von Paul Tiedemann im "kleinen Finale" gegen den Gastgeber Dänemark (19:15). Dabei glänzte Wieland Schmidt mit Sensationsreflexen. Wolfgang Böhme und Co. kehrten also mit der dritten WM-Medaille in Folge nach Hause. Ein Erfolg, sagt der damalige Co-Trainer Klaus Langhoff. "Wir waren ja ein sehr junges Trainerteam und hatten noch alles vor uns."
Die Rückkehr in die Weltspitze begossen sie ausgiebig im Kopenhagener Hotel Imperial, in dem die Mannschaften der Finalspiele gemeinsam logierten. Vergessen jene tiefe Demütigung von Karl-Marx-Stadt 1976, als die DDR in der Olympiaqualifikation gegen die BRD gescheitert war. Die Stimmung? Feucht-fröhlich und ausgelassen.
Nach vielen Bieren und Schnäpsen waren die obligatorischen Aufpasser und Funktionäre derart derangiert, dass die DDR-Spieler dies nutzten. Wolfgang Böhme etwa hatte die Zimmer-Nummer des westdeutschen Linkshänders Kurt Klühspies längst gespeichert – die Teams logierten auf einem Flur.
Nun, nach diesem anstrengenden Turnier, klopfte Böhme, als er sich unbeobachtet fühlte, einfach an der Tür des Großwallstädters. In seinem Arm: ein paar Bierdosen. Die gemeinsamen Erfahrungen aus Karl-Marx-Stadt und aus einem Freundschaftsspiel 1977 zwischen ihren Clubs hatten das Band zwischen den beiden unorthodoxen Linkshändern schon enger geknüpft. So begann die Bierdosen-Affäre, die erst nach der Wende 1989 öffentlich wurde.
Damals war, offiziell, jedem DDR-Spieler der Kontakt mit den westdeutschen Kollegen strikt untersagt. Auch nach dem 14:14-Remis in der WM-Hauptrunde 1978 war der übliche Plausch nach Abpfiff nicht gestattet. Nur wenige DDR-Handballer waren so mutig wie Böhme, der trotz der Gefahr die Gespräche mit den Kollegen aus dem Westen suchte.
In diesem Moment waren die westdeutschen Handballer freilich nicht so entspannt wie der Rostocker. Schließlich lag der größte Auftritt ihrer Leistungssportkarriere noch vor dem Team, das von dem überragenden Joachim Deckarm angeführt wurde: Am nächsten Tag ging es gegen die Sowjetunion – den Olympiasieger, den der Nimbus der Unbesiegbarkeit umwehte. Aber für ein Bier unter Handballern war Zeit.
Auch Klühspies und Teamkollege Heiner Brand hatten ebenfalls ein paar Bier mit auf das Zimmer genommen. Und das mit dem Wissen ihres Bundestrainers Vlado Stenzel, dem die Argumentation der Spieler durchaus einleuchtete: Nach einem Kaltgetränk könnten sie besser schlafen, hatten die Handballer berichtet.
Nachdem die ersten Dosen geleert waren, unterhielten sich die Handballer über die Spielweise der Sowjets. Böhme hatte schon oft gegen die Russen gespielt, meistens gewonnen. Böhmes direkter Gegner war meistens Wladimir Maximow, der intelligente Spielgestalter der Russen.
Nun, am Vorabend des Finals, nahm Böhme irgendwann die bereits geleerten Bierdosen zur Hand und erklärte den westdeutschen Handballkumpels, wie die wichtigsten Spielzüge der Sowjets liefen, welche Taktiken der Finalgegner anwendete. "Wenn einer die Russen schlagen kann, dann ihr", feuerte er die Kollegen aus der BRD an.
Böhme unterlief also nicht nur den verbotenen Kontakt zum Klassenfeind aus dem Westen. Es war viel mehr: Er unterrichtete Klühspies und Brand sogar noch über die Finessen des Gegners, den die Propaganda zwar als sozialistischen Bruder pries, der von den meisten Handballern der DDR aber gehasst wurde. Irgendwann leerten sie die restlichen Dosen, bis Klühspies und Brand ins Bett fielen, um genügend Schlaf für das größte Spiel ihrer Karriere zu bekommen.
Böhme schloss sich wieder seinen feiernden Mannschaftskollegen an. Und freute sich am nächsten Tag klammheimlich auf der Tribüne der Bröndby-Halle, als die Mannschaft von Vlado Stenzel mit dem sensationellen 20:19-Sieg gegen die Sowjetunion einen Mythos der Handballgeschichte schuf.
"Die Nacht der Bierdosen", nannte Rainer Eppelmann, einer der letzten Minister der DDR, im Jahr 2007 jene mittlerweile sagenumwobene Unterhaltung. "Wir haben vom Kalten Krieg nichts mitbekommen", sagt Klühspies. "Es war immer ein fairer Kampf zwischen den deutschen Mannschaften." Für ein Bier unter Handballern reichte es allemal.