Prenzlauer Berg, im hippen Berliner Stadtteil herrscht wildes Treiben. Es ist Feiertag. Massen strömen über den mit Kopfsteinen gepflasterten Gehweg auf der Oderberger Straße. Jener Straße, die zum Mauerpark führt.
An der Max-Schmeling-Halle, im Norden der historischen Grünanlage, tummeln sie sich. Menschen mit Eintrittskarten. Manche von ihnen tragen Trikots, in grün, pink oder rot. Und manche trinken Bier. Was auffällt: auf dem Rücken vieler steht der Name von Mathias Gidsel.
Er ist der Spieler, dem nach dem 37:29-Sieg gegen die MT Melsungen der größte Applaus galt. Und dessen Traum, zum ersten Mal mit den Füchsen die Meisterschaft zu gewinnen, weiterlebt.
Ein Abend in der Max-Schmeling-Halle. Und sieben Dinge, die du vor Ort verpasst hast.
Am 8. Juni können die Füchse Berlin Deutscher Meister werden. Einen kleinen Vorgeschmack auf das, was sie an jenem Tag vielleicht erwartet, bekamen sie aber schon vor dem Topspiel gegen die MT Melsungen.
Mathias Gidsel war der erste, der sie in den Händen halten durfte: die Meisterschale. Vor den Augen der Moderatorin von Dyn griff Gidsel mit Daumen und Zeigefinger beherzt zu.
"Nicht so schwer, wie gedacht", sagte Gidsel, er brauche eine Echte. Denn wie unschwer zu erkennen war, handelte es sich nicht um die originale Meisterschale, sondern nur um ein kreisrundes Stück Pappe.
Er ist bekannt für seine schrillen Outfits, seine quietschbunten Pullover, die so aussehen, als hätte man sie durch einen Wasserfarbkasten der Marke Faber-Castell gezogen. Bob Hanning, Geschäftsführer der Füchse und selbsternannter Napoleon des Handballs, watschelte eine Stunde vor Spielbeginn über das Spielfeld in der ausverkauften Max-Schmeling-Halle.
Sein Fit: auf edel angelehnt. Er trug einen Zweiteiler, das Hemd offen, darunter ein weißes T-Shirt von Prada. Der Stoff: fest. Das Muster: könnte Fendi sein, oder ein Irrgarten aus hellen und dunklen Grau-Tönen.
Für einen kurzen Moment hatten sie sich eingenistet, die Nullerjahre. Von der Hallendecke, wenige Meter über dem Tor, hing ein metergroßer LED-Screen. Wo man während der Partie den Spielstand, Aufstellung und Tore ablesen konnte, war vor Anpfiff ein Fan zu sehen. Weiß, männlich, um die 40, mit Bart, aber wenig Haaren auf dem Kopf.
Am "Ehrentag der Herren", wie es der Hallensprecher sagte, hatte er sich bereiterklärt, die Menge zu erheitern. Oder um es mit anderen Worten zu sagen: den Hampelmann zu spielen.
Er bekam die Aufgabe, möglichst viele Punkte zu sammeln. Was er dafür tun musste? Die Arme in die Luft strecken und sie schnell von links nach rechts bewegen.
Die Szene erinnerte an Guitar Hero. Doch statt rhythmisch auf bunte Noten zu zielen, jagte er einem ganz anderen Symbol hinterher – dem Füchse-Logo. Ironischerweise lief dazu der Song "Highway to Hell" von ACDC im Hintergrund. Na, dann, Rock'n'Roll.
Vor Spielbeginn umarmten sie sich: Lichtlein und Lichtlein, Onkel Carsten und Neffe Nils, die 44-jährige Torwart-Legende der MT Melsungen und der 22 Jahre jüngeren Spielmacher der Füchse. Es wurde sich auf den Rücken geklopft, beide trugen ein dickes Grinsen im Gesicht.
Verwunderlich war das nicht. Weder Klein-Lichtlein noch Senior-Lichtlein hatten mit einem Familienduell gerechnet. Warum? Carsten Lichtlein spielt nicht mehr, seine Karriere hat er längst beendet.
Nur weil sich Melsungens Stammtorhüter Nebojsa Simic kürzlich verletzte, rückte der ehemalige Nationaltorwart und Weltmeister von 2007 zurück in den Kader. Minuten im Tor sammelte er jedoch nicht, ebenso wenig wie Punkte. Denn Spiel und Familienduell gewann Nils.
Im Innenraum der Max-Schmeling-Halle vermischte sich der tosende Applaus von den Rängen mit dem Geruch von Schwefel. "Wir haben heute ausnahmsweise Pyrotechnik im Einsatz", erklärte mir ein Mitarbeiter der Füchse vor dem Spiel. Es könne laut werden.
Wie sich später herausstellte, sollte er recht behalten. Als die Gastgeber aus dem Spielertunnel liefen, die Lichtershow begann, hunderte Klatschpappen im Takt schlugen und der Kunstnebel über das blaue Linoleum kroch, da knallte es. So laut, dass sich eine Journalistin auf der Pressetribüne erschreckte. Nur wenige Sekunden später regnete es Asche mitten auf das Spielfeld.
Nur gut, dass die Mitarbeiter darauf vorbereitet waren. Kurzerhand fegten ein älterer Herr und eine Dame im etwa gleichen Alter die Reste der Feuerwerkskörper zusammen. Von denen war um 20 Uhr nichts mehr zu sehen, pünktlich zum Anpfiff.
Stars, darunter J.Lo, Shakira, Rihanna und zuletzt Kendrick Lamar, traten beim Superbowl auf. In der Halftime gehörte ihnen die womöglich größte Bühne der Welt. Davon kann Fuchsi nur träumen.
Nach Übersee wird es das Maskottchen mit dem originellen Namen wohl nicht mehr bringen. Dafür unterhält er regelmäßig eine ausverkaufte Max-Schmeling-Halle. Am Donnerstagabend sahen 18.000 Augen, wie sich Fuchsi erst wellenartig über den Boden schlängelte und dann in Manier eines Rockers lässig am Rücken eines Gitarristen lehnte.
Kurze Zeit später sprang Fuchsi über die Bande, rauf auf einen Tisch, wo die aufgeklappten Laptops der Journalist:innen lagen. "Sweet Caroline" lief über die Lautsprecher. Und Fuchsi? Der hatte seine One-Man-Show noch lange nicht beendet.
Was im TV zu sehen war: Mathias Gidsel. Wie er rennt und wie er springt, durch eine Lücke in Melsunger Abwehr hindurch oder aus dem Rückraum, von zehn, elf Metern.
Auch wie er Tore wirft, war zu sehen, 15 an der Zahl, sein persönlicher Bestwert. Doch was den Fans zu Hause und denen in der Halle verwehrt blieb, war ein Stefan Kretzschmar, der versuchte, die richtigen Worte zu finden.
"Ich habe keine Ahnung, wie oft ich noch den Namen Gidsel erwähnen soll", sagte der Füchse-Boss auf der Pressekonferenz nach dem Spiel und verbesserte sich sogleich selbst: "Wie oft ich ihn erwähnen muss. Oder besser: kann. Oder: darf."
Aus Kretzschmar sprach pure Ehrfurcht. Gidsel sei laut ihm eine "Augenweide", wohl wissend, dass der weltbeste Handballer weit mehr ist als nur schön anzusehen.
"Diesem Spieler zu schauen zu dürfen, ist ein Geschenk", sagte er abschließend und vergaß dabei nicht, die geschlossene Teamleistung zu würdigen.