Das Scheinwerferlicht steht bereit und das Feuer will entfacht werden: Das ESC-Finale am 13. Mai steht kurz bevor. Die deutschen Gothic-Rocker Lord of the Lost sind in Liverpool angekommen, um ihren Song "Blood & Glitter" zu performen. Rechtzeitig, nachdem sie ihre Südamerika-Tour beendet haben.
In einer freien Minute sprechen Sänger Chris Harms und Bassist Klaas Helmecke mit watson. Darüber, wie sie zum ESC stehen – und wie sie ihre Chancen einschätzen.
Auf der Bühne geben sich die Musiker in finsterer Gestalt: blass geschminkt, mit düsterer Miene – passend zur harten, melancholischen Musik. Entsprechend groß ist der Kontrast, wenn sie sich freundlich und entspannt im Interview zeigen – trotz eigener Tour und trotz ESC.
Kann man sich vor solch einem Event überhaupt noch auf andere Konzerte konzentrieren?
"Ja, natürlich", antwortet Chris "The Lord" Harms. "In einem so speziellen Fall wie dem ESC wäre es mir schon lieber gewesen, keine interkontinentale Tour vorher zu machen. Aber noch wichtiger ist es, Wort und Verträge zu halten und nicht auf der anderen Seite der Welt die eigenen Fans zu enttäuschen."
Ein Prinzip, das erstmal nachvollziehbar klingt. Trotzdem: Man muss bedenken, dass der ESC nicht einfach irgendeine Show ist. Der Eurovision Song Contest besteht seit 1956 und geht nun in die 67. Runde. Es nehmen 37 Länder teil, womit jedes Jahr mehr als 180 Millionen Zuschauer:innen erreicht werden.
Was Streams und Follower betrifft – so verrät die Band – sind damit schon vor ihrem Auftritt in Liverpool alle bisherigen Rekorde gebrochen. Wobei Chris betont: "Meine Füße stehen nach wie vor genauso fest auf dem Boden wie immer." Dennoch kann eine solche Größe selbst eine Band nervös machen, die seit fast 15 Jahren aktiv ist.
Oder etwa nicht?
"Wir sind ja in der sehr angenehmen Position, dass Deutschland in den letzten Jahren immer schlecht abgeschnitten hat", sagt Mitgründer Klaas "Greynade" Helmecke dazu. "Viele Kritiker sagen deshalb, Deutschland wird sowieso Letzter. Nun: Dem werden wir mindestens gerecht." Er grinst.
Während Klaas offenbar zum Scherzen aufgelegt ist, sieht Chris die Sache schon ein wenig ernster. Er erklärt:
Klaas räumt ein, dass auch er die Sache ernst nimmt – und sich natürlich in Wahrheit mehr wünscht als den letzten Platz. Er sagt: "Es macht einen natürlich stolz, wenn man viel Arbeit in etwas steckt, das dann die ultimativen Früchte trägt. Anstelle von Nischen-Bereichen erreichen wir nun die breite Masse."
Seine Freude zeigt sich am deutlichsten, als er kurz darauf konkreter über die Show in Liverpool zu sprechen kommt: "Wir haben ja schon beim Vorentscheid mit Podesten die Bühne vergrößert. Das wird beim ESC nochmal mega aufgepumpt: alles größer, alles mehr, alles schwerer."
Für alle, die Lord of the Lost noch nicht kennen: In der Gothic- und Metal-Szene sind sie schon seit Jahren etabliert. Erst im Januar landeten sie mit ihrem aktuellen Album "Blood & Glitter" auf Platz 1 der deutschen Album-Charts. 2022 verzeichneten sie einen anderen großen Meilenstein: Sie tourten mit den britischen Heavy-Metal-Ikonen Iron Maiden.
Nun also der Sprung von der Heavy-Metal-Bühne in die Mainstream-TV-Show. Es gibt Leute, die sich an solchen Sprüngen stören: eingefleischte Fans, die den Heavy Metal nur dann authentisch finden, wenn sich die Außenseiter der Gesellschaft mit ihm identifizieren können. Mit Mainstream sollte das nichts zu tun haben, finden sie.
Lord of the Lost haben eine klare Meinung dazu.
"So richtig gepasst haben wir noch nie", erklärt Klaas. "Geboren sind wir zwar in der Gothic-Szene, aber auch da waren wir zu schnell zu offen für andere Anschlüsse. Das ist aber kein Hindernis, sondern ein Alleinstellungsmerkmal."
"Am Ende wird es immer irgendjemanden stören", ergänzt ihn der Frontmann. "Wichtig ist, das zu machen, was man selbst als gut und richtig erachtet. Dann ist man authentisch."
Ob die Band nun Rock, Metal, Gothic oder doch auch Mainstream-Pop spielt – eines ist sicher: Optisch stechen sie heraus. Dass Bands mit markantem Auftreten beim ESC keine schlechten Chancen haben, hat sich schon öfter gezeigt. Man denke an die finnischen Hard Rocker Lordi, die 2006 den Sieg holten, oder die Italiener Måneskin, die es 2021 schafften.
Wie schätzen Lord of the Lost ihre eigenen Chancen ein?
Chris erklärt: "Das Überraschungsmoment ist sicherlich hilfreich, aber nicht notwendig, siehe Michael Schulte (Platz 4, 2018). Aber über Chancen nachzudenken ist ohnehin so, wie über die Unendlichkeit des Universums nachzudenken – es führt am Ende zu nichts."
Aber ist das realistisch? Malt man sich nicht zwangsläufig im Kopf die Chancen aus, die man haben könnte? Und wenn die Band nun mal nicht nur für sich selbst spielt, sondern im Grunde ein ganzes Land vertritt – geht nicht auch ein gewisses Gefühl der Verantwortung damit einher?
Mit der Antwort auf diese Fragen findet Chris Harms wohl ein gutes Schlusswort: