Seit dem 19. Januar zeigt RTL wieder das Dschungelcamp. Eigentlich läuft die Reality-Show jedes Jahr gleich ab: Zwölf Prominente ziehen in ein Camp im australischen Dschungel. Drumherum bilden verschiedene Traditionen seit nun 20 Jahren die unverrückbaren Korsettstangen des Formats. Dennoch ist die Show nach wie vor extrem beliebt.
Die Dschungelprüfung etwa gehört zu "Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!" wie das Cocktailschirmchen auf dem Kotzfrucht-Shake. Zwischen Kakerlaken-Duschen und Ekel-Menüs müssen die Stars beweisen, dass sie des Dschungels und vor allem der Dschungelkrone würdig sind. So lautet immerhin die edle Annahme hinter dem Ritual.
In der ersten Woche der Reality-Show entscheiden die Zuschauer:innen, wer an einer Prüfung teilnehmen muss. In dieser Zeit dient die Prüfung als Barometer für Gunst und Ungunst des Publikums – und in letzter Instanz als Bestrafungsinstrument für falsches, unfaires Verhalten. Oder auch nur für den Umstand, eine Frau zu sein. Zumindest entsteht dieser Eindruck fast jedes Jahr aufs Neue.
Die beliebtesten "Prüfungsopfer" in diesem Jahr heißen Leyla Lahouar und Kim Virginia. In den Jahren zuvor hießen sie auffällig oft Gisele, Larissa, Georgina oder Tessa. Mit anderen Worten: Sie waren in der Regel weiblich. Und das ist nicht nur ein Gefühl oder eine Ahnung, das lässt sich mit Zahlen belegen.
Wir haben uns die Dschungel-Prüfungen der letzten zehn Jahre aus insgesamt zehn Staffeln genauer angeschaut, aber nur jene, in denen das Publikum aktiv an der Besetzung mitwirkte. Ab der zweiten Woche entscheiden die Bewohner:innen selbst, wer die Prüfungen ableistet.
Häufig wurden die Prüfungen von mehreren Personen absolviert, weshalb keine glatten Zahlen zustande kamen. Das Ergebnis ist aber eindeutig:
Natürlich ist das Publikum, das über die Opfer abstimmt, eine anonyme Masse. Den Abstimmenden ein klares Feindbild zu unterstellen, ist schwierig. Einen Gefallen wollen die Zuschauer:innen den Stars mit ihrem Abstimmungsverhalten aber sicher nicht tun.
Dafür muss man sich nur die Bilder der vollkommen in Tränen aufgelösten Leyla Lahouar anschauen. Die Prüfung "Ich bin im Spa, holt mich hier raus!" brach sie an Tag drei nach einer Panikattacke ab. Eingesperrt in eine enge Kiste, hätte sie es minutenlang mit diversen Tieren aushalten müssen. Die 27-Jährige presste angsterfüllt den rettenden Satz "Ich bin ein Star, holt mich hier raus!" hervor und selbst die sonst so ironische Moderatorin Sonja Zietlow ließ der Anblick nicht kalt. Auch nach der Rückkehr ins Camp wurde Leyla von Zitteranfällen geplagt.
Wer könnte dieser Frau bereits am nächsten Tag eine weitere Tortur zumuten? Nun ja: das Dschungelcamp-Publikum konnte. Die Demokratie der Grausamkeit schlug verlässlich erneut zu.
Leyla Lahouar ist ein krasses, aktuelles Beispiel dieses Abstimmungsverhaltens, aber eben bei Weitem nicht das einzige. Die Ex-"GNTM"-Teilnehmerin Gisele Oppermann weinte bei ihren Prüfungen in Staffel 13 regelmäßig Sturzbäche vor Angst und Verzweiflung. Es war furchtbar anzusehen. Dennoch – oder womöglich gerade deswegen – wurde sie vom Publikum siebenmal nacheinander in die Prüfungen gewählt: die Maximalausbeute.
Und ein Rekord, den sie sich mit zwei weiteren Kandidatinnen teilt. Erstmals in sieben aufeinander folgende Prüfungen gewählt, wurde die damals 23 Jahre alte "Bachelor"-Teilnehmerin Georgina Fleur im Jahr 2013. Ein Jahr später "gelang" dies auch Larissa Marolt, ehemalige "GNTM"-Teilnehmerin.
Vielleicht ist hier eine Linie erkennbar: Es trifft nicht nur häufig Frauen, sondern auch besonders häufig junge, normschöne Frauen. Es gibt natürlich Ausnahmen: 2017 hatte es das Publikum auf Matthias Mangiapane abgesehen und ihn sechsmal nacheinander in die Prüfung gewählt. Wie gesagt: ein Ausreißer. So was kam davor und danach nie wieder vor.
Wer bei den Prüfungen mehrheitlich anruft, Männer oder Frauen, ist nicht bekannt. Studien zum Abstimmungsverhalten für Quäl-Prüfungen im TV gibt es natürlich auch nicht. Jedoch kann man das Dschungelcamp und seine Prüfungen problemlos einbetten und vergleichen mit anderen gesellschaftlichen Bereichen.
Frauen sind im Internet häufiger betroffen von Hass und digitaler Gewalt als Männer, belegt unter anderem ein Bericht der EU-Agentur für Grundrechte (FRA). Sie werden zudem häufiger Opfer von sexuellen Übergriffen und häuslicher Gewalt.
Eine Dschungelprüfung ist selbstverständlich nicht vergleichbar mit solchen Fällen. Die Teilnehmer:innen machen das am Ende freiwillig und lassen sich für die Demütigungen fürstlich finanziell entschädigen. Doch durch den klaren Belohnungszusammenhang – eklige Prüfung für etwas Essen – sind sie dem Publikum quasi ausgeliefert. Sie befinden sich allein durch den Gruppendruck in einer Zwangssituation.
So viel Macht, um vor allem Frauen aus der Distanz zu demütigen, kriegt ein TV-Publikum in Deutschland sonst nicht.
Dieses diffuse Mobbing-Verhalten, dieses blinde Verständnis, eine bestimmte Frau tagelang zu quälen, lässt sich in fast jeder Staffel beobachten. Es läuft nicht organisiert, aber systematisch ab. Dieser virtuelle Gewaltakt folgt wiederkehrenden Regeln und Gesetzen.
Leyla Lahouar flehte nach ihrer ersten Prüfung: "Aber bitte, die sollen nicht nochmal anrufen für die Prüfung". Erfahrene Dschungel-Fans wissen: Damit machte sie alles noch schlimmer. So was versteht das Publikum eher als Aufforderung: "Jetzt erst recht. Der zeigen wir es richtig."
Die gute Nachricht: Auch das Dschungelpublikum kennt so etwas wie Gnade. Als Leyla Lahouar nach ihrer dritten Prüfung von einem Kindheitstraumata und einem Erlebnis häuslicher Gewalt berichtete, ließ das Publikum von ihr ab. Sie hatte offenbar genug gelitten.
Das nächste (weibliche) Prüfungsopfer war aber nicht fern: Kim Virginia wurde am Samstag in ihre fünfte Dschungelprüfung gewählt.