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Ikkimel in Berlin: Das bringt der Ruhebereich für Neurodivergente

Ikkimel auf dem Roten Teppich zur 2. Verleihung des Musikpreises POLYTON, Atelier Gardens, Berlin, Berlin Deutschland, Germany *** Ikkimel at the Red Carpet to 2 award Ceremony of Music Award POLYTON, ...
Ikkimels Berlin-Konzert in der Columbiahalle war schon Monate im Vorraus ausverkauft.Bild: IMAGO images / Berlinfoto
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Ikkimel-Konzert in Berlin: Keta und Krawall im Ruhebereich

Ikkimel polarisiert wie kaum jemand in der deutschen Musikszene. Und das vor allem, weil sie eine Frau ist, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Warum ich "Keta und Krawall" lieber im Ruhebereich genieße.
31.03.2025, 19:2602.04.2025, 06:47
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Wir sollen uns beim Eingang der Gästeliste anstellen, schrieb mir das Management als Hinweis. Super, denke ich, direkt weniger Menschenmassen. Falsch gedacht: leider sind bei diesem Konzert wahnsinnig viele Menschen auf der Gästeliste, der Hype um Ikkimel geht wohl auch an VIPs nicht vorbei.

Und so befinde ich mich in einer vollen Warteschlange, zittere am ganzen Körper und sage immer wieder zu meinen Freund:innen: Ich brech ab, ich brech zusammen, ich packe das nicht. Vor meinen Augen flackert es, und es fällt mir zunehmend schwer zu atmen.

In diesem Moment, bin ich ernsthaft überzeugt davon, den Abend nicht zu überstehen. Dabei haben wir die Tickets vor mehr als fünf Monaten gekauft und uns seitdem darauf gefreut.

Wir werden auf der Liste abgehakt und dürfen rein in die Columbiahalle. Dort tummeln sich die Menschen, drängeln auf die Toilette, zur Bar oder in Richtung Bühne. Ich greife nach der Hand meiner Begleitung. Gemeinsam schieben wir uns durch die Massen auf dem Weg zum Treppenhaus. Denn im ersten Stock soll alles anders werden.

Mit Panikattacken beim Konzert: Ikkimel hat vorgesorgt

Und bei diesem Konzert ist alles anders. Ausgerechnet bei Ikkimel, der deutschen Prinzessin der Provokation, erlebe ich das erste Mal, wie es ist, ein Konzert als "normaler" Mensch zu genießen. Oder zumindest rede ich mir das ein. Denn bei ihren Konzerten bietet sie einen "Ruhebereich" für Schwangere und neurodivergente Menschen an.

Obwohl ich wenig so gerne mache, wie auf Konzerte zu gehen, ist es für mich als neurodivergente Person mit Panikattacken meist mehr Tortur als Genuss. Wenn ich mich dann doch mal überwinde, ist es ein besonderer Tag: besonders anstrengend, besonders beängstigend, besonders euphorisch, das ist vorprogrammiert.

Eigentlich stehe ich immer irgendwo hinten in der Ecke, sehe sowieso nichts, aber immerhin höre ich den Live-Act. Oft gehe ich früher, um Menschenmassen zu vermeiden und brauche dann tagelang, um mich zu erholen. Ob es das Geld wert ist, weiß ich ehrlich gesagt nicht.

Im Ruhebereich angekommen, fühle ich mich direkt entspannter – und (!) ich kann sogar die Bühne sehen. Mit einer Hand lehne ich mich an die Wand, mache meine übliche Atemübung und evaluiere, ob ich das Konzert vielleicht sogar richtig frei tanzen könnte.

Ich wage sogar zu hoffen, dass ich für ein paar Stunden vergessen kann, dass mir das hier eigentlich so unfassbar schwerfällt.

Langsam öffne ich wieder die Augen und schaue mich um. Wir sind ganz hinten in der Halle im ersten Stock in der Ecke, ein Security-Mitarbeiter riegelt den Bereich ab. Etwa 30 Menschen befinden sich hier. Ich höre eine Schwangere zu ihrer Begleitung sagen, wie toll es ist, dass Ikkimel diesen besonderen Service anbietet. Sonst hätte sie nicht zum Konzert kommen können.

So geht es wohl einigen hier im Ruhebereich. Neurodivergenz und deren Symptome sind vielfältig: ADHS, Autismus und weitere neurodivergente Zustände können Symptome wie Panikattacken und Reizüberflutungen auslösen. Das macht den Alltag für Betroffene meist extrem anstrengend.

Dann wird's plötzlich laut. Sprechchöre bringen die Halle zum Beben, als das Publikum nach der Königin der Nacht ruft: "IKKIMEL!" schreit plötzlich der ganze Saal. Ich schaue mich im Ruhebereich um – ist es hier erlaubt, mitzugrölen und mitzusingen?

Ich sehe wieder die schwangere Person, sie lacht mich an, als sie bestärkend mitruft. Fast alle im Ruhebereich machen mit. Schließlich stimme ich ein.

Plötzlich erscheint ein drehender Papp-Diamant auf der Bühne, Ikkimel steigt aus. Die Show beginnt. "Hübsch und arrogant und nie alleine unterwegs", startet sie ihren Rap. Same, denke ich.

Aber im Gegensatz zu ihr bin ich wegen Panikattacken nie allein unterwegs. Schnell stimme in den Song "Aszendent Bitch" mit ein, noch immer etwas ängstlich.

Mein Blick auf Ikkimel und Ski Aggu aus dem Ruhebereich.
Mein Blick auf Ikkimel und Ski Aggu aus dem Ruhebereich.bild: privat

Wenige Songs später, wir befinden uns mitten im Song "MÜTTER", sehe ich diverse kommende Mütter um mich herum twerken, immer mal wieder pausierend im Sitzen. Ich sehe wahrscheinlich neurodivergente Personen enthemmt tanzen. Nun springe auch im Takt mit.

Ich fühle mich frei, nur meine Hand an der Wand erinnert sich daran, dass ich mich immer absichern muss, denn jederzeit könnte eine Panikattacke diesen wilden Partyspaß beenden.

Beim Song "Baddie" muss ich schließlich lachen. "Weißt du was? I'm a baddie, I'm a baddie", singt sie. Wenn ich eins wegen meiner Panikattacken nicht mehr bin, dann definitiv ein Baddie. Aber gut. Hier im Ruhebereich sind wir alle echte Baddies heute Abend, denn wir haben unsere Ängste und Einschränkungen überwunden.

Neurodivergenz in unserer Gesellschaft ist weit verbreitet

Irgendwann geschieht das unvermeidliche: Ikkimel pausiert das Konzert und erklärt, als sie fortsetzt, dass eine Person gerade eine Panikattacke in der Menge gehabt habe. Sie wartet, bis die Sanitäter:innen der Person helfen konnten und weist dabei charmant auf den Ruhebereich, "da oben links" hin.

Alle aus dem Ruhebereich winken ihr zu, sie winkt zurück. "Bitte keine Spotlights auf uns", denke ich mir. Zum Glück wird mein Stoßgebet erhört, oder Ikkimel hat wirklich bis zum Schluss mitgedacht.

Ich frage mich unweigerlich, ob die Person mit der Panikattacke nichts davon wusste, sich nicht zugehörig gefühlt hat oder, ob es ihr vielleicht unangenehm war, vor ihren Freund:innen zuzugeben. Denn Neurodivergenz ist eigentlich sehr verbreitet in unserer Gesellschaft. Noch stärker vertreten ist nur das Stigma über sie.

Ätzender, als im Alltag eingeschränkt zu sein, ist es, wenn Menschen einem mit diesem unverständlichen, mitleidigen Blick anschauen und dann fragen: "wie gehst du dann bitte einkaufen? Da bist du ja auch unter Leuten". Ja, genau, sau anstrengend, merkste selber.

Ikkimel-Konzert – eine Show voller Selbstbestimmung

Keine Sorge, die positive Erfahrung im Ruhebereich hat mich nicht so sehr geblendet, dass ich darüber die Musik komplett vergessen hätte.

Eigentlich lässt sich der Abend aber in einem Satz beschreibt: Ikkimel weiß, wie man gut provoziert. Und die Masse liebt es. Das hab sogar ich gemerkt, obwohl ich diesmal etwas abgetrennt von der Menschenmenge war. Die Rap-Prinzessin weiß ganz klar, wie man Menschen fasziniert.

Klar, sie polarisiert. Ja, auch bei diesem Konzert wurde ein männlicher Fan in einen Hundezwänger gesteckt, während sie sang "ein Mann bleibt ein Mann und ein Hund bleibt ein Hund". Für beinahe jeden zweiten Song holt sie einen Mann als Feature auf die Bühne – aber sie bleiben im Hintergrund. Petermann, Whitey en vogue, auch Ski Aggu und Paul von 01099 wissen um ihre Rolle am heutigen Abend.

Nein, Ikkimel ist nicht für alle was. Aber mit diesem Konzert hat sie bewiesen: Das will sie auch gar nicht. Sie weiß, wer ihre Crowd ist und für diese legt sie eine Show sondergleichen hin. Sie rappt von "they oder them", von Drogen und Sex – der ultimativen Selbstbestimmung. An einigen Stellen wird sie politisch, schießt gegen das Patriarchat und die AfD.

Dutzende Male am Abend sagen meine Freund:innen und ich einander, dass es uns rettet, dass sie diesen Bereich anbietet. Denn schaut man nach unten, sieht man Moshpits. Geht man auf die Toilette, reihen sich besoffene Männer vor dem Eingang. Versucht man die Halle nach dem Konzertende beseelt zu verlassen, schubsen die Ungeduldigen.

So ganz darüber hinweg bin ich noch immer nicht. Denn der Abend hat neben einer verdammt guten Zeit mir vor allem eins gebracht: Die Hoffnung darauf, dass weitere Künstler:innen auf ihren Konzerten Ruhebereichen einführen können.

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