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Depression & Dysmorphobie: Meine psychisch kranke Mutter

"Also dann: Tschüss." Larissas Mutter war psychisch krank und wollte sterben

Bild: Unsplash/Konstantin Zander
06.10.2018, 19:11
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Für die meisten Kinder gibt es eine unumstößliche Gewissheit: Wenn ich nicht weiter weiß, habe ich immer noch Mama. Oder Papa. Die wissen, was zu tun ist. Die werden mich auffangen.  

Nicht für Larissa Sarand. "Ich hab früh gelernt, dass es für mich keine Sicherheit gab", sagt die 30-Jährige im Gespräch mit watson.de. "Meine Mutter war psychisch krank und wollte sterben – und mein Vater stand hilflos daneben."

3,8 Millionen Kinder wachsen in Deutschland laut Bundesregierung bei sucht- oder psychisch kranken Eltern auf. "15 Prozent davon sind jünger als 3 Jahre. Und: Die Dunkelziffer ist sicher höher, denn das sind nur die Zahlen diagnostizierter psychischer Erkrankungen", sagt Doreen Leib.

Die Psychologin berät Kinder und Familien mit psychisch erkrankten Eltern und kennt typische Sorgen in diesen Familien: "Kinder suchen die Schuld bei sich, schämen sich und versuchen Konflikte aufzufangen. Das ist sehr anstrengend."

Larissa hofft, dass sie mit ihrer Geschichte das Thema enttabuisieren kann. "Denn eines weiß ich: Das Leben mit psychisch kranken Eltern ist ein einsames Geschäft." Was genau sie damit meint, hat sie uns erzählt.

Kindheit: Mit Mama war schon immer etwas anders...

"Ich habe sehr früh gemerkt, dass ihr Verhalten von der Norm abweicht", erinnert sich Larissa. Als sie erst sechs Jahre alt ist, macht sie mit Anspitzer-Abfall einen bunten Fleck auf den Teppich in ihrem Kinderzimmer. Panisch versucht das Mädchen den wegzuputzen, als sie von ihrer Mutter erwischt wird. "Das hast du doch mit Absicht gemacht, du kleines Miststück", ruft Heike und schlägt auf ihr Kind ein, während Larissas Papa hilflos im Türrahmen steht. 

Dann sagt Heike zu ihrer Tochter:

"An deiner Stelle würde ich heute Nacht die Augen nicht allzu fest schließen. Es könnte nämlich gut sein, dass ich später, wenn dein Vater schläft, hier hereinkomme, dich mit ins Bad nehme, deinen Kopf in die Kloschüssel stecke und so lange spüle, bis du ersoffen bist."

Larissa lernt: Mama ist unberechenbar. "Man muss diese Dinge als Kind irgendwo ablassen", sagt sie heute. "Bei mir half die Flucht in die Bücher." Larissa verbringt ihre Freizeit vor allem in der Bibliothek. 

2010-2012: Es ist in ihrem Kopf

2010 erwischt Larissa ihre Mutter immer häufiger, wie sie ihren Kopf vorm Spiegel hin und her dreht, Kiefer und  Wangen betastet. Sie sagt, sie habe Zahnschmerzen und ihr Gesicht sei deformiert. "Mein ganzes Gesicht ist schief! Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock! Die linke Seite ist viel dicker und hängt total runter", schreit sie ihren Mann und ihre Tochter an.

Die beiden sind irritiert, denn zu sehen ist: Nichts! 

Heike besucht einen Arzt nach dem anderen, doch keiner findet eine Ursache. "Meine Zunge ist so dick, dass ich gar nicht mehr richtig reden kann. Hört ihr das nicht?", sagt sie im März 2011. Und wieder: Kein Befund.

Es ist in ihrem Kopf.

"Für sie war es aber real", sagt Larissa. "Ich habe später hunderte Selfies gefunden, auf denen sie ihr ,schiefes' Gesicht aus allen Winkeln dokumentierte. In böser Absicht gelogen hat sie also nicht, sie hat es ehrlich so gesehen." 

Heike wird immer rasender darüber, dass niemand sie versteht. Die Ärzte, die nichts finden? Sind Quacksalber und Geldmacher. Die Familie, die das schiefe Gesicht nicht sieht? Idioten. 

Am 28.9. 2011 bricht ihr Stamm-Zahnarzt die Suche nach einem Kieferproblem ab und empfiehlt "dringend die Vorstellung bei einem allgemeinen Schmerztherapeuten mit psychotherapeutischer Ausrichtung". Larissas Mutter ist stinksauer. 

"Sie weigerte sich. Ihre Probleme waren ja ,organisch'."
Larissa zu watson.de

Obwohl sie sich nicht therapeutisch behandeln lassen will ist Larissa völlig klar, dass sich die Dämonen ihrer Mutter in ihrer Psyche aufhalten. "Doch wie anmaßend wäre es zu sagen, Mama, das ist nur in deinem Kopf? NUR? Der Kopf ist ALLES. Er entscheidet darüber, wie du Schmerzen empfindest und ob du glücklich bist."

Heike spricht immer wieder davon, nicht mehr leben zu wollen, die Schmerzen ihres entstellten Gesichts seien zu groß.

Lass dir helfen
Du hast das Gefühl, in einer ausweglosen Situation zu stecken? Wenn du dir im Familien- und Freundeskreis keine Hilfe suchen kannst oder möchtest – hier findest du einige anonyme Beratungs- und Seelsorgeangebote.

Telefonseelsorge: Unter 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 erreichst du rund um die Uhr Mitarbeiter, mit denen du über deine Sorgen und Ängste sprechen kannst. Auch ein Gespräch via Chat oder E-Mail ist möglich. telefonseelsorge.de

Kinder- und Jugendtelefon: Der Verein "Nummer gegen Kummer" kümmert sich vor allem um Kinder und Jugendliche, die in einer schwierigen Situation stecken. Erreichbar montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr unter der Rufnummer 116 111. nummergegenkummer.de

Muslimisches Seelsorge-Telefon: Die Mitarbeiter von MuTeS sind 24 Stunden unter 030 – 44 35 09 821 zu erreichen. Bei MuTeS arbeiten qualifizierte Muslime ehrenamtlich. Ein Teil von ihnen spricht auch türkisch. mutes.de

Hier findest du eine Übersicht aller telefonischer, regionaler, Online- und Mail-Beratungsangebote in Deutschland: suizidprophylaxe.de

Larissas Vater steht dem Ganzen hilflos gegenüber. "Er war herzensgut, aber schwach", sagt Larissa. "ICH habe mich über Krankheitsbilder informiert, nach Therapiemöglichkeiten gesucht, Einkaufen und Putzen übernommen – und meine eigenen Probleme weggedrückt."

Nützen tut es nichts. Ihre Mutter weigert sich, zum Psychologen zu gehen und erhält daher nie eine Diagnose.

Larissa sucht heimlich den besagten Zahnarzt auf und schildert (Jahre später) auch ihrem eigenen Therapeuten die Symptome: "Natürlich sind Ferndiagnosen problematisch. Aber beide haben auf eine manische Dysmorphobie (Störung der Körperwahrnehmung) zusammen mit einer Depression getippt. Heute würde ich sagen: Das kommt hin."

Am 17. Oktober 2012 versucht ihre Mutter zum ersten Mal, sich zu töten. Sie wird in eine Psychiatrie eingewiesen. "Aber sobald sie geschnallt hat, dass sie sich selbst entlassen kann, war sie weg", so Larissa. Am 30. Oktober kommt ihre Mutter wieder nach Hause. Kaum zur Tür herein verkündet sie beschwingt: 

"Ich wollte nicht nur sterben, ich will es immer noch. Und das wird mir auch gelingen. Aber erstmal gehe ich in die Badewanne."
Larissas Mutter nach ihrem Suizidversuch

2013: Wie kämpft man gegen die Fantasien seiner Mutter?

Als wäre es bei den Sarands nicht kompliziert genug, folgt 2013 die nächste Hiobs-Botschaft: Im Januar wird bei Larissas Vater Darmkrebs diagnostiziert, ihm bleibt nur noch ein Jahr.

Der krebskranke Vater muss aufhören zu arbeiten. "Du weißt, dass dein Vater und ich sterben werden. Bei Klaus erledigt das der Krebs, aber bei mir ist das leider nicht so leicht", erklärt Heike ihrer Tochter.

Larissa ist 26 Jahre alt. Tagsüber geht sie weiter an die Uni, schuftet für ihren Abschluss. "Ich habe mein Leben einfach weitergeführt. Schon aus Protest – so nach dem Motto: Meine Zukunft lasse ich mir von dir nicht auch noch nehmen."

Was Kinder psychisch kranker Eltern belastet
Doreen Leib ist Dipl. Psychologin bei der Familienberatungsstelle AURYN

für Kinder und Familien mit psychisch erkrankten
Eltern

im WEGE-Verein, Leipzig.
Was sind typische Sorgen von Kindern psychisch kranker Eltern?
Vor allem kleine Kinder sind oft sehr verwirrt über das Verhalten ihrer Eltern, sie haben Angst und Schuldgefühle. Im Grundschulalter gibt es noch diese "magische Denke", nach dem Motto: "Mama ist so, weil ich gestern nicht aufgegessen habe." Dazu kommt, dass sich die Kinder oft isolieren und in Schweigen zurückziehen. Manchmal schämen sie sich einfach, Freunde mit nach Hause zu nehmen, manchmal wird ihnen der Kontakt auch verboten. Sie verstehen, dass mit ihrer Familie etwas nicht stimmt, aber sie können nicht zuordnen, was. 
Gibt es auch praktische Probleme? 
Ja. Viele Kinder übernehmen sehr früh sehr viel Verantwortung, elterliche Pflichten gegenüber jüngeren Geschwistern zum Beispiel. Oder das Einkaufen und den Haushalt. Noch dazu schmeißen sie sich häufig zwischen Mama und Papa oder ihr krankes Elternteil und die Außenwelt. Sie machen sich selbst zum Schiedsrichter in Konflikten, das kann sehr belastend sein.
Die Eltern sind ja krank. Darf man ihnen also nicht böse sein?
Doch. Man muss sogar. Es ist Teil von Therapien, dass Kinder auch Wut auf die Eltern zulassen können, dass sie lernen: Ich muss nicht alles verstehen und auffangen. Ich darf ein eigenes, sogar glückliches Leben haben. Wir wissen aber: Für das Elternteil ist es auch hart. Sie erleben eine Doppelbelastung, müssen sich um ihre Krankheit UND ihre Kinder kümmern. 
Werden Kinder psychisch Kranker oft selbst krank?
Gerade Jugendliche haben diese Angst und ja, sie ist leider nicht ganz unberechtigt. Ihr Risiko zu erkranken ist etwa 2-10fach erhöht. Das hängt von den Genen ab, aber auch von der Resilienz, also wie widerstandsfähig ihre Psyche ist. Deshalb ist es wichtig, dass Kinder psychisch kranker Eltern früh Unterstützung bekommen.
Wie können Angehörige helfen?
Immer wieder Therapieangebote suchen, das Gespräch am Laufen halten und Hilfe auf dem silbernen Tablett servieren. Aber man muss auch klar sagen: Manchmal wird trotz aller Bemühungen jede Hilfe abgelehnt. Wenn es um Erwachsene geht und nicht um Kindeswohlgefährdung, hilft dann nur noch eins: Akzeptanz. So schwer es fällt.

Die Sprüche ihrer Mutter prallen bald schon an ihr ab. "Irgendwann war es für mich normal, dass meine Mutter beim Essen über Suizidmethoden spricht. Es war ein einziger Kreislauf: Sie faselte über ihren Tod und ich über Therapie – wir redeten aneinander vorbei. Wie verrückt das war, begreift man erst später."

"Meine Mutter wollte sterben, mein Vater musste es. Und ich hatte mir fest vorgenommen, beides zu verhindern."
Larissa Sarand

Larissa versucht, ruhig zu bleiben, doch es gelingt ihr nicht immer. Ein Abend ist ihr noch besonders in Erinnerung, sagt sie. "Da hat es mir so richtig gereicht."

Während Larissas Vater, inzwischen ein Pflegefall, seinen eigenen Kot erbricht, keift Heike ihre Tochter an: "Ich hätte gerne seinen Krebs. Sehr gerne sogar. Dann würde mich endlich mal jemand ernst nehmen mit meinen Beschwerden, und ich könnte endlich in Ruhe krepieren. Aber dieses Glück bleibt nur deinem Vater vergönnt."

"Ich sagte ihr: ,Du bist ein Unmensch.' Und bin gegangen. Ich konnte es nicht fassen, dass sie neidisch war, auf meinen Vater, dem es so armselig ging." Ein weiterer Tiefpunkt.

Sie sei in diesem Jahr nur noch mürbe gewesen, sagt Larissa heute. Irgendwann spricht sie nicht mal mehr mit ihren Freunden darüber, denn die wissen ebenfalls keinen Rat: "Die Dramen haben sich ja ständig wiederholt, was soll man dazu schon sagen?"

2014: Mama ist tot

Larissas Vater stirbt am 19. März 2014. Danach wird Heike noch unberechenbarer. Immer öfter ruft sie nachts an und fachsimpelt über Suizidmethoden. 

Larissa: "Mit der Zeit raste mein Herz bei solchen Gesprächen immer weniger. Der Schock, der sich einstellte, war nicht mehr so grell und hart wie anfänglich, sondern wurde zunehmend dumpf. Der Mensch gewöhnt sich wirklich an alles."

Larissas Buch

Larissa Sarand: "Der Wahnsinn und seine Gefährten", 288 Seiten, 14,99 EUR, Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag
Larissa Sarand: "Der Wahnsinn und seine Gefährten", 288 Seiten, 14,99 Euro, Schwarzkopf & Schwarzkopf VerlagBild: Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag

Am 30. April ruft ihre Mutter abends nochmal an, wirkt ungewohnt ruhig. "Also dann: Tschüss." sagt sie. Am nächsten Morgen findet Larissa sie tot. Die Beerdigungen ihrer Eltern liegen nur sechs Wochen auseinander. Larissa steht da und kriegt nicht eine Träne aus sich heraus. Emotional tot nennt sie das.

"Als Mama starb, war ich zuerst erleichtert. Aus, Ende, Schluss. Sie war so gruselig zuletzt. Ich hatte über ein Jahr nicht mehr durchgeschlafen. Ich konnte nicht mehr."
Larissa zu watson.de

Der Zusammenbruch kommt erst Wochen später, als sie ihre Eltern anruft und in der Leitung "kein Anschluss" mehr hört. Mit einem Schlag sickert alles ein. Larissa setzt eine Flasche Wodka an, ohne Glas, und trinkt sich an diesem Abend fast ins Koma. Sie schläft 16 Stunden am Stück. 

"Ich wurde magersüchtig und schlitterte in eine Depression", erzählt sie. Erst 2016 fängt sie an, sich mit ihrer Geschichte zu beschäftigen. "Momentan bin ich so stabil, wie ich eben sein kann", sagt sie. "Ich habe einen Sportzwang, muss 7mal die Woche trainieren. Ich habe keine Zukunftspläne mehr – das Leben macht mit dir, was es will, das habe ich gelernt."

Und heute? 

Larissa hat inzwischen ihr Lehramts-Studium abgeschlossen und schreibt einen Blog. "Ich finde es komisch, wenn Leute sagen ,Wie toll, dass du das geschafft hast'. Klingt ja, als hätte ich eine Alternative gehabt", sagt sie. 

Larissa heute

NUR ZUR EINMALIGEN VERWENDUNG MIT BUCH: Larissa Sarand
Bild: Konstantin Zander

Dass sie selbst irgendwann eine Depression entwickeln könnte, beschäftigt sie oft. "Auch mein Opa hat sich schon getötet. Das hängt wie ein Damoklesschwert über mir", sagt Larissa. "Ich hoffe nur, dass es mich nie so erwischt, wie meine Mutter."

Ihre Geschichte hat keine Moral und auch keine lehrreiche Lektion zu bieten. "Ich habe es einfach nur überstanden", sagt sie. Sie hofft aber, dass sie mit ihrer Geschichte das Thema enttabuisieren kann. 

"Denn eines weiß ich: Das Leben mit psychisch kranken Eltern ist ein einsames Geschäft."
Larissa zu watson.de
Wo Kinder Hilfe finden
Bei der Bundesarbeitsgemeinschaft "Kinder psychisch erkrankter Eltern" finden Interessierte Fachliteratur zum Thema. Betroffene haben hier außerdem die Möglichkeit, Anlaufstellen vor Ort zu finden – diese sind unter "Einrichtungen und Projekte" nach Postleitzahlen sortiert.
bag-kipe.de

Auch die Initiative netz-und-boden.de bietet eine gute Übersicht über regionale Hilfsangebote für Angehörige psychisch Erkrankter.
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