Auf Social Media stößt man derzeit vermehrt auf den Hashtag "Sober October", was im Prinzip bedeutet, im Oktober keinen Alkohol zu trinken, also nüchtern zu bleiben. Es gibt aber auch den Dry January, "Mindful Drinking" oder "Sober Curious" – der zeitweise Verzicht auf Alkohol hat viele Namen und wird immer beliebter. Im Internet finden sich zahlreiche Gruppen zum Support des alkoholfreien Lebens, immer mehr Bücher erscheinen zum Thema und bekannte Instagram-Influencer wie Madeleine Darya Alizadeh, bekannt als "DariaDaria", preisen den alkoholfreien Lifestyle an.
Der Trend des Alkoholverzichts startete wie so oft in Übersee, wo die ersten alkoholfreien Bars bereits vor drei Jahren eröffneten. Als Vorreiterin der Bewegung gilt die New Yorker Journalistin Ruby Warrington mit ihrem Buch "Sober Curious", das schnell viele Anhänger fand. Immer mehr Bars und Eventreihen ohne Alkohol ploppten in Amerika und Großbritannien auf und kurz vor dem Corona-Lockdown entstand mit Zeroliq auch in Berlin die erste alkoholfreie Bar Deutschlands.
Warum ist das Alkoholfasten so faszinierend für viele Menschen? Watson spricht über das Phänomen mit Suchtexperten, Alkoholfastenden und der Mitgründerin des ersten alkoholfreien Spätis in Deutschland, Isabella Steiner.
Null Prozent Späti heißt der Berliner Spätkauf im hippen Kreuzberger Bergmannkiez, den Isabella Steiner zusammen mit ihrer Freundin Katja Kauf gegründet hat. Der erste alkoholfreie Späti Deutschlands. Dort drängen sich zahlreiche alkoholfreie Getränke in Regalen und auf Tischen – und zwar keine süßen Softdrinks oder Mocktails, sondern Wein, Gin, Bier, Whiskey oder Rum. Mocktails, also alkoholfreie, meist sehr süße Cocktails mit kindischen Namen, kann Steiner überhaupt nicht ausstehen: "Wenn ich das nur lese: Virgin Colada. Das ist ja absolut inakzeptabel!", sagt sie.
Isabella Steiner erzähl im Gespräch mit watson, was der Unterschied ihrer Unternehmensphilosophie zu Trends wie "Sober Curious" ist: "Wir wollen alkoholfrei cool machen, ohne diesen Background, dass Alkohol ein Problem oder eine Sucht ist." Natürlich gehöre es dazu, dass einige ihrer Kunden ehemalige Alkoholiker seien. "Aber was uns im Prinzip unterscheidet, ist, dass unsere Idee nicht aus der Sucht, also aus einem Problem heraus geboren ist, sondern aus der Fragestellung: Was trinke ich, wenn ich nicht trinke?"
Als gelernte Soziologin interessierte sich die junge Frau schon immer für gesellschaftliche Trends. Ein Umzug nach Berlin und der Launch der alkoholfreien Marke Seedlip 2015 brachten Steiner darauf, ihren eigenen Alkoholkonsum zwei Jahre lang in einer Art Trink-Tagebuch zu tracken. "Damals gab es das nur in einer allgemeinen Sucht-App per Ampelsystem mit rot-gelb-grün", so Steiner im Gespräch mit watson. "Nach einer Weile fing ich an, auch mein Umfeld zum Alkoholkonsum zu analysieren." Ihr fiel auf, dass es theoretisch immer einen Anlass zum Trinken gibt – vor allem in der Hauptstadt: "In Berlin ist es normal, dass man an sieben Tage die Woche und egal um welche Uhrzeit Alkohol trinken kann. Irgendeinen Grund zum Trinken gibt es immer."
Dabei geht es den beiden Späti-Gründerinnen nicht darum, Alkohol allgemein zu verteufeln: "Wir sind nicht dogmatisch, wir wollen nur die alkoholfreien Alternativen aufzeigen. Auch wir konsumieren noch Alkohol, aber eben bewusster", so Steiner. "Das Prinzip des Mindful Drinking ist ja, dass man versteht, was Alkohol mit einem macht. Also sich zu fragen: Wie viel trinke ich, wann trinke ich und mit wem. Und zu überlegen: 'Okay, ist es heute Abend wirklich nötig? Ist das nötig, dass ich mir zwei Aperol Spritz gönne und am nächster Morgen total kaputt bin?'" "Mindful Drinking" heißt auch das Buch von Isabella Steiner, in dem sie Tipps für alkoholfreie Anlaufstellen in deutschen Städten gibt, Begriffe erklärt und Rezepte für alkoholfreie Drinks.
Beim Schreiben dieses Buches wurde der Soziologin dann auch erst richtig bewusst, wie verrückt es eigentlich ist, dass man Alkohol trinkt – schließlich mache man sich damit selbst krank, inklusive Erbrechen, Kopfschmerzen und Verstimmungen. "Das klingt jetzt ein bisschen dramatisch, aber mir hat das sehr gut geholfen", sagt sie mit einem Lächeln.
Die Gründe für den Alkoholverzicht von Menschen sind vielfältig: "Viele kommen zu uns wegen des Genusses oder des Gesundheitsbewusstseins", so Steiner. Viele dürfen oder können auch keinen Alkohol trinken, zum Beispiel wegen einer Alkohol-Allergie. "Dann haben wir natürlich auch Stillende und Schwangere und die ganze Yogaszene als Kunden. So richtige Yoginis trinken oft keinen Wein, aber die wollen irgendwas Besonderes zum Anstoßen haben", erzählt sie.
Ihre Kundschaft sind Leute allen Alters, die Kerngruppe sei aber zwischen 45 und 65 Jahre alt. Oft würden die Kunden ein paar Weinsorten mitnehmen und als Wochenendprojekt durchprobieren, was ihnen gut schmeckt.
Doch nicht nur ältere Menschen verzichten anscheinend häufiger auf Alkohol: Laut einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Bzga) von Juli 2020 entwickelt sich der regelmäßige Alkoholkonsum junger Menschen in Deutschland seit den 1970erJahren insgesamt rückläufig, insbesondere bei den 18- bis 25-Jährigen. Christine Kreider, Referentin für Prävention bei der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), erklärt diesen Trend gegenüber watson folgendermaßen:
Bei Daniel Starke startete der Weg zum Alkoholverzicht mit einem Fastenmonat, der allerdings eher dazu führte, dass er danach noch mehr trank. "Insgesamt war es noch nicht extrem, aber durchaus ungesund und definitiv eine psychische Abhängigkeit", so Starke gegenüber watson. Die Hauptgründe fürs Aufhören waren seine Familie und auch sein Sport: "Das hat einfach nicht mit Alkohol zusammengepasst."
Starke sagt über seinen früheren Alkoholkonsum: "Ich konnte mir zum Beispiel keinen Urlaub oder auch Filmabend ohne Alkohol vorstellen. Ohne Wein hätte da einfach was gefehlt." Am Ende waren es bei ihm täglich circa zwei Bier bis hin zu einer Flasche Wein am Wochenende. Ein Pensum, das in Deutschland nicht unbedingt unüblich ist. Schließlich zog der Familienvater für ein komplettes Jahr die Reißleine: "Ich komme nun gut damit klar, nach einem gemütlichen Abend mit Bier im Abschluss wieder drei Wochen gar nix zu trinken", erzählt er.
Ein Ratschlag, der ihn auf seinem Weg zum bewussten Alkoholkonsum aufrüttelte, war folgender:
Weniger Trinkabende und teure Spirituosen – das lässt erst mal daran denken, dass man mit einem alkoholfreien Lifestyle Geld sparen kann. Doch viele alkoholfreie Alternativen sind im Schnitt teurer als Drinks mit Promille. Das hat aber einen guten Grund: "Man vergisst, dass bei alkoholfreien Getränken schon vorneweg ein Designprozess stattfindet: Also welches Produkt soll es sein, wie soll es schmecken und das dann geschmacklich zu konzipieren, das ist ein riesiger Prozess", erklärt die Betreiberin des alkoholfreien Spätis, Isabella Steiner.
Vor allem beim Wein: "Einen Grundwein mit Alkohol muss man erst mal entalkoholisieren, also du hast im Prinzip vorne und hinten noch einen ganzen Schritt mehr", erklärt Steiner den Preisunterschied zu alkoholhaltigen Getränken. Aus diesem Grund bieten die Betreiberinnen des Spätis und Online-Shops nüchtern.berlin neuerdings auch alkoholfreie Tasting-Events an, um vor dem Kauf erst mal ausprobieren zu können, was einem selbst überhaupt schmeckt. Denn auch bei den alkoholfreien Alternativen gibt es unterschiedliche Geschmäcker: "Es gibt auch Leute, die mögen einen Wein, den würde ich nicht mal für Geld trinken", so Steiner zu watson.
Der Markt für alkoholfreie Getränke jedenfalls boomt: "Das haben wir auch in den letzten zwölf Monaten gemerkt, der Absatz verdoppelt sich circa alle drei Monate. Wir haben circa 75 Prozent deutsche Produkte und 25 Prozent aus dem Ausland. Und Großbritannien ist da natürlich ganz weit vorne", so die Unternehmerin. Ihr alkoholfreier Späti läuft so gut, dass derzeit zwei weitere Filialen in anderen Städten geplant sind – ebenso wie eine eigene alkoholfreie Getränkemarke. Auch die großen Player haben diesen Trend schon erkannt: Sowohl die Marke Siegfried Gin als auch Coca-Cola nehmen mit dem "Siegfried Wonderleaf" und "Bar None" jeweils ein hippes alkoholfreies Getränk für Erwachsene ins Sortiment auf.
Ob man trotz starker Absatzsteigerung und mehr Alkoholverzicht aber schon von einer gesellschaftlichen Trendwende sprechen kann, ist fraglich. Oft muss man sich weiterhin vor anderen dafür rechtfertigen, nicht zu trinken. "Die Gesellschaft ist durchtränkt: In jedem Lebensbereich, zu jeder Zeit wird getrunken. Man könnte fast schon sagen, Feiern ist ein Synonym für Alkohol. Man kann das gar nicht entkoppeln. Und da entsteht ein großer sozialer Druck", so Steiner.
Sie erzählt von Dates, die sich nicht mit ihr treffen wollten, weil sie kaum Alkohol trinkt. Von Freunden, mit denen man sich nur beschwipst etwas zu sagen habe. Und von Ereignissen, die sogar Freundschaften zerstören: "Eine Kundin erzählte mir, wie ihre Freundschaft am Thema Alkohol zerbrach, weil sie auf der Hochzeit ihrer besten Freundin als stillende Mutter nichts trinken wollte."
Doch all die Schwierigkeiten auf dem Weg zum bewussten Alkoholkonsum lohnen sich laut Steiner: "Wenn man einen Abend lang wirklich standhaft bleibt, sich selbst das Wort hält und dann um 2 Uhr nachts nach Hause geht, alkoholfrei, nüchtern – das ist halt ein geiles Gefühl. Es ist fast schon ein Sieg. Ich glaube, man muss auch einmal diese Erfahrung machen, das durchzuhalten", erzählt sie.
Aber nun mal ganz ehrlich, sind alkoholfreie Getränke wirklich ein befriedigender Ersatz für ein gutes Glas Wein oder Gin? "Ich will nicht lügen, es ist geschmacklich noch viel Potential nach oben", sagt die junge Frau. Jedoch gebe es schon knapp fünf Produkte, die für sie geschmacklich ein hochwertiger, vollwertiger Ersatz für alkoholische Getränke seien. Diese würden sogar einer Blindverkostung standhalten und für einen schönen, süffigen Abend sorgen – ohne böses Erwachen am nächsten Morgen.