Seit Anfang April gilt für alle in Deutschland, mit Ausnahme der zwei Bundesländer Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern, nur noch der sogenannte Basisschutz gegen die Corona-Pandemie. Damit fällt das verpflichtende Tragen der Masken in den meisten Bereichen des Alltags weg, es muss nur noch in öffentlichen Verkehrsmitteln und in Krankenhäusern sowie in Pflegeeinrichtungen ein Mundnasenschutz getragen werden.
Auch wenn der große Jubel innerhalb der Gesellschaft ausblieb und viele angesichts der weiter hohen Infektionszahlen freiwillig weiterhin Maske tragen, ist für viele der Wegfall der Maskenpflicht doch ein Stückchen wiedergewonnene Freiheit.
Doch nicht für alle ist diese Freiheit ein Grund zur Freude: Denn bei einer aktuellen Impfquote von 76 Prozent gibt es immer noch circa 20 Millionen Ungeimpfte in Deutschland, für die eine Ansteckungsgefahr nach wie vor größere Risiken birgt als für Geimpfte. Aus welchen Gründen jemand ungeimpft ist, und welches Alter derjenige hat, spielt dabei eine zusätzliche Rolle.
So tragen Kinder allgemein ein etwas geringeres Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken. Und ein ungeimpfter 45-Jähriger ohne Vorerkrankungen hat ein völlig anderes persönliches Risiko für einen schweren Verlauf, als ein 60-Jähriger geimpfter Transplantationspatient.
Der Virologe Ulf Dittmer von der Uniklinik Essen sagte kürzlich in einem Interview mit der journalistischen Genossenschaft "Riffreporter", die echten Verlierer der Pandemie seien "Menschen, die mit einem transplantierten Organ leben und deshalb Medikamente zur Unterdrückung der Immunabwehr einnehmen müssen."
Doch wie können wir für besonders vulnerable Gruppen langfristig den besten Schutz bieten, da das Virus vermutlich so schnell nicht verschwindet? Für immer drinnen Maske tragen?
"Nicht für immer, aber so lange die Infektionszahlen so hoch sind wie jetzt," sagt Dittmer bezüglich der Immunsupprimierten auf Nachfrage von watson. "Damit steigt ja das Risiko, dass solche Patienten beim Einkaufen auf Infizierte ohne Maske treffen, erheblich. Erst wenn dieses Risiko geringer ist, sollten wir den Mundnasenschutz in Innenräumen abnehmen."
Nun mag das Beispiel der Transplantationspatienten ein extremes sein. Dennoch ist die Gefahr für Menschen sehr real, deren Immunsystem aus verschiedenen Gründen nur unzureichend oder gar nicht auf das Sars-Cov-2-Virus vorbereitet ist – wie auch bei Ungeimpften in der Altersgruppe über 60 Jahre.
In dieser vulnerablen, weil oft durch Vorerkrankungen belasteten Gruppe, besteht nach wie vor eine große Impflücke, wie der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach schon Mitte Januar in einem Interview mit Bild am Sonntag feststellte: "Bei uns sind drei Millionen Menschen über 60 ungeimpft. Das ist jeder Achte."
In der bisherigen Argumentation der Bundesregierung zur Aufrechterhaltung der Coronamaßnahmen stand immer der Schutz der Ungeimpften im Vordergrund.
Prof. Timo Ulrichs von der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften sieht die politischen Entscheidungen einer weitreichenden Lockerung zum aktuellen Zeitpunkt kritisch. Er sagt gegenüber watson:
Er ist der Meinung, dass die immer noch zu vielen Ungeimpften nach wie vor ein Risiko für das Gesundheitssystem darstellen. "Mit dem Runterbringen der Infektionsdynamik sollte und soll verhindert werden, dass sich zu viele Ungeimpfte auf einmal anstecken, von denen der Anteil mit schweren Verläufen unser Gesundheitssystem belastet, beziehungsweise belasten wird."
Der Virologe Ulf Dittmer sieht die Situation der Krankenhäuser bezüglich der Ungeimpften im Gespräch mit watson dagegen etwas entspannter. Er bezieht die natürliche Immunisierung durch eine Infektion mit ein:
"Die Quote von Menschen mit Immunität gegen SARS-CoV-2 ist in Deutschland sicher viel höher als 76 Prozent. Zusammen mit dem nicht mehr so gefährlichen Omikron Virus ist die Lage in den Krankenhäusern inzwischen gut kontrollierbar – vielleicht bis auf den Ausfall von Mitarbeitern. Also ein richtiger Zeitpunkt, Maßnahmen abzuschaffen."
Dennoch plädiert auch Dittmer dafür, den Basisschutz durch das Tragen eines Mundnasenschutzes in Innenräumen aufrecht zu erhalten. Hier kritisiert auch er die aktuelle Regelung: "Dies nur in bestimmten Räumen verpflichtend zu machen, macht medizinisch keinen Sinn."
Der Virologe wirft der Politik in diesem Punkt vor, die medizinischen Fakten außer Acht zu lassen. "Das Virus verbreitet sich nicht nur im Bus, wo man einen Mundnasenschutz tragen muss, sondern auch im Supermarkt, wo man keine Maske mehr tragen muss."
Der Lungenspezialist Dr. Cihan Çelik vom Klinikum Darmstadt sagte kürzlich in einem Interview in der FAZ, "dass der Kontakt zum Virus bald zum Teil des allgemeinen Lebensrisikos werden wird, insbesondere für Immunisierte. Und das, ohne die realen Risiken der Infektion herunterzuspielen."
Doch wie gefährlich ist der Wegfall der Maßnahmen für die Ungeimpften in der Bevölkerung, sprich, jedem seinem persönlichen "Infektionsschicksal" auszusetzen?
Dazu meint der Virologe Dittmer zu watson:
Auch der Epidemiologe Ulrichs warnt im Gespräch mit watson vor zu schneller Entspannung: "Irgendwann wird es so kommen, dass wir in der Tat die Coronaviren, ähnlich wie die saisonalen Influenzaviren als zusätzliches Infektionsrisiko haben werden – aller Voraussicht nach auch saisonal zu Herbst/Winter. Doch noch ist es nicht soweit."
Der immer noch hohe Anteil Ungeimpfter berge seiner Ansicht nach das Risiko weiterer Infektions- und Erkrankungswellen – sogar über den Frühling und Sommer. Ulrichs sieht den einzigen Ausweg in einer, gerade im Bundestag gescheiterten, Impfpflicht.
Ulrichs appelliert aus diesem Grund: "Nur über eine gute Grundimmunität in der Population bannen wir das Risiko weiterer Wellen und beenden damit die Pandemie in Deutschland. Dieses Ziel lässt sich leider nur noch über eine Impfpflicht erreichen."
In der aktuellen Infektionslage kann von einer Entspannung grundsätzlich noch nicht ausgegangen werden. Ganz im Gegenteil, die Infektionszahlen sind trotz laut RKI fallender Tendenz (Stand 8. April 2022) immer noch sehr hoch und für Ungeimpfte bedeutet das im Klartext: Dass sie "einer Ansteckung so gut wie nicht mehr entgehen können", so formulierte es Gesundheitsminister Lauterbach in einer Pressekonferenz Ende März.
Wird mit den Lockerungen zum jetzigen Zeitpunkt also einer "Durchseuchung" stattgegeben? Prof. Ulf Dittmer hat darauf eine eindeutige Antwort: "Ja, es wird eine Durchseuchung geben. Sie findet ja schon statt. Für die Geimpften ist das medizinisch zu vertreten, für ungeimpfte ältere Menschen gefährlich, aber das hat Herr Lauterbach schon ziemlich deutlich kommuniziert."
Der Epidemiologe Ulrichs teilt diese Ansicht:
Erst mit einer soliden Grundimmunität müssten wir, so Ulrichs weiter, keine Sorge um weitere Wellen haben, auch nicht um weitere Varianten. "Und wir müssen auch nicht ständig nachimpfen, weil die saisonal auftretenden Coronaviren für eine natürliche Aktualisierung beziehungsweise Auffrischung sorgen werden – und damit sich selbst bremsen hinsichtlich einer wellenartigen Ausbreitung."
Dennoch sei es sinnvoll, in der aktuellen epidemiologischen Lage ein Minimum an Maßnahmen aufrechtzuerhalten: FFP-2-Maskentragen, Abstände einhalten und eine Isolierungspflicht für Erkrankte.