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Wie bedenklich sind die Lockerungen für Ungeimpfte? Das sagen Corona-Experten

Ein Schild auf dem Viktualienmarkt in der Innenstadt, das eigentlich auf das Tragen einer Maske hinweisen soll, ist mit Klebeband durchgestrichen und mit einem Aufkleber mit dem Wort „Angst“ versehen.
Mit dem Fall der Masken kommt die Angst: Das Ende der Maskenpflicht an vielen öffentlichen Orten bedeutet für die einen ein Stückchen wiedergewonnene Freiheit, für andere eine Gefahr.Bild: dpa / Peter Kneffel
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Jedem sein persönliches Infektionsschicksal: Was die Lockerungen für Ungeimpfte bedeuten

08.04.2022, 19:45
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Seit Anfang April gilt für alle in Deutschland, mit Ausnahme der zwei Bundesländer Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern, nur noch der sogenannte Basisschutz gegen die Corona-Pandemie. Damit fällt das verpflichtende Tragen der Masken in den meisten Bereichen des Alltags weg, es muss nur noch in öffentlichen Verkehrsmitteln und in Krankenhäusern sowie in Pflegeeinrichtungen ein Mundnasenschutz getragen werden.

Auch wenn der große Jubel innerhalb der Gesellschaft ausblieb und viele angesichts der weiter hohen Infektionszahlen freiwillig weiterhin Maske tragen, ist für viele der Wegfall der Maskenpflicht doch ein Stückchen wiedergewonnene Freiheit.

Doch nicht für alle ist diese Freiheit ein Grund zur Freude: Denn bei einer aktuellen Impfquote von 76 Prozent gibt es immer noch circa 20 Millionen Ungeimpfte in Deutschland, für die eine Ansteckungsgefahr nach wie vor größere Risiken birgt als für Geimpfte. Aus welchen Gründen jemand ungeimpft ist, und welches Alter derjenige hat, spielt dabei eine zusätzliche Rolle.

So tragen Kinder allgemein ein etwas geringeres Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken. Und ein ungeimpfter 45-Jähriger ohne Vorerkrankungen hat ein völlig anderes persönliches Risiko für einen schweren Verlauf, als ein 60-Jähriger geimpfter Transplantationspatient.

Der Virologe Ulf Dittmer von der Uniklinik Essen sagte kürzlich in einem Interview mit der journalistischen Genossenschaft "Riffreporter", die echten Verlierer der Pandemie seien "Menschen, die mit einem transplantierten Organ leben und deshalb Medikamente zur Unterdrückung der Immunabwehr einnehmen müssen."

Für immer drinnen Maske tragen?

Doch wie können wir für besonders vulnerable Gruppen langfristig den besten Schutz bieten, da das Virus vermutlich so schnell nicht verschwindet? Für immer drinnen Maske tragen?

"Nicht für immer, aber so lange die Infektionszahlen so hoch sind wie jetzt," sagt Dittmer bezüglich der Immunsupprimierten auf Nachfrage von watson. "Damit steigt ja das Risiko, dass solche Patienten beim Einkaufen auf Infizierte ohne Maske treffen, erheblich. Erst wenn dieses Risiko geringer ist, sollten wir den Mundnasenschutz in Innenräumen abnehmen."

Drei gemalte Köpfe mit der Unterschrift „Bitte Tragen Sie Masken“ kleben am Eingang eines Ladengeschäfts in der Innnenstadt. Nach knapp zwei Jahren ist in großen Teilen Deutschlands die staatliche Vor ...
Nach knapp zwei Jahren ist in den meisten Teilen Deutschlands die Maskenpflicht im Einzelhandel entfallen. Allerdings ist es möglich, das Tragen von Masken per Hausrecht zu fordern – oder dieses freiwillig zu tun.Bild: dpa / Peter Kneffel

Nun mag das Beispiel der Transplantationspatienten ein extremes sein. Dennoch ist die Gefahr für Menschen sehr real, deren Immunsystem aus verschiedenen Gründen nur unzureichend oder gar nicht auf das Sars-Cov-2-Virus vorbereitet ist – wie auch bei Ungeimpften in der Altersgruppe über 60 Jahre.

In dieser vulnerablen, weil oft durch Vorerkrankungen belasteten Gruppe, besteht nach wie vor eine große Impflücke, wie der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach schon Mitte Januar in einem Interview mit Bild am Sonntag feststellte: "Bei uns sind drei Millionen Menschen über 60 ungeimpft. Das ist jeder Achte."

Experten kritisieren die politischen Corona-Lockerungen

In der bisherigen Argumentation der Bundesregierung zur Aufrechterhaltung der Coronamaßnahmen stand immer der Schutz der Ungeimpften im Vordergrund.

Prof. Timo Ulrichs von der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften sieht die politischen Entscheidungen einer weitreichenden Lockerung zum aktuellen Zeitpunkt kritisch. Er sagt gegenüber watson:

"Hier wurde ganz klar einer irrationalen, jeglicher epidemiologischen Grundlage entbehrenden Vorgabe der FDP nachgegeben, zum 20. März zu lockern. Dieser Termin war angesichts der Infektionsdynamik in der Omikron-Welle viel zu früh und rein willkürlich, und wir haben die Welle damit unnötigerweise verbreitert. Ein Blick in die Nachbarländer macht klar, dass unter Beibehaltung der Maßnahmen über einen weiteren kurzen Zeitraum die Zahlen schnell stark nach unten gegangen wären."
Timo Ulrichs Virologe 12/21 her Prof. Dr. Timo Ulrichs am 09. Dezember 2021 in Markus Lanz , ZDF TV Fernsehen Talkshow Talk Show Deutschland deutsch deutscher Mann Wissenschaft Wissenschaftler Epidemi ...
"Termin für Lockerungen zu früh": Prof. Timo Ulrichs, Infektionsepidemiologe von der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin.Bild: www.imago-images.de / teutopress GmbH

Er ist der Meinung, dass die immer noch zu vielen Ungeimpften nach wie vor ein Risiko für das Gesundheitssystem darstellen. "Mit dem Runterbringen der Infektionsdynamik sollte und soll verhindert werden, dass sich zu viele Ungeimpfte auf einmal anstecken, von denen der Anteil mit schweren Verläufen unser Gesundheitssystem belastet, beziehungsweise belasten wird."

Der Virologe Ulf Dittmer sieht die Situation der Krankenhäuser bezüglich der Ungeimpften im Gespräch mit watson dagegen etwas entspannter. Er bezieht die natürliche Immunisierung durch eine Infektion mit ein:

"Die Quote von Menschen mit Immunität gegen SARS-CoV-2 ist in Deutschland sicher viel höher als 76 Prozent. Zusammen mit dem nicht mehr so gefährlichen Omikron Virus ist die Lage in den Krankenhäusern inzwischen gut kontrollierbar – vielleicht bis auf den Ausfall von Mitarbeitern. Also ein richtiger Zeitpunkt, Maßnahmen abzuschaffen."

Ulf Dittmer, Leiter des Instituts für Virologie der Universitätsklinik, spricht während eines Interviews mit der dpa. In Essen sehen sich Stadt und Uniklinik gut vorbereitet auf Patienten, die mit dem ...
Prof. Ulf Dittmer, Leiter des Instituts für Virologie der Universitätsklinik Essen, verteidigt das Abschaffen der Maßnahmen.Bild: dpa / Bernd Thissen

Dennoch plädiert auch Dittmer dafür, den Basisschutz durch das Tragen eines Mundnasenschutzes in Innenräumen aufrecht zu erhalten. Hier kritisiert auch er die aktuelle Regelung: "Dies nur in bestimmten Räumen verpflichtend zu machen, macht medizinisch keinen Sinn."

Der Virologe wirft der Politik in diesem Punkt vor, die medizinischen Fakten außer Acht zu lassen. "Das Virus verbreitet sich nicht nur im Bus, wo man einen Mundnasenschutz tragen muss, sondern auch im Supermarkt, wo man keine Maske mehr tragen muss."

Experten warnen: Zu früh, um Corona wie eine Grippe zu behandeln

Der Lungenspezialist Dr. Cihan Çelik vom Klinikum Darmstadt sagte kürzlich in einem Interview in der FAZ, "dass der Kontakt zum Virus bald zum Teil des allgemeinen Lebensrisikos werden wird, insbesondere für Immunisierte. Und das, ohne die realen Risiken der Infektion herunterzuspielen."

Timo Ulrichs zur Grundimmunität

"Dieses Ziel lässt sich leider nur noch über eine Impfpflicht erreichen."

Doch wie gefährlich ist der Wegfall der Maßnahmen für die Ungeimpften in der Bevölkerung, sprich, jedem seinem persönlichen "Infektionsschicksal" auszusetzen?

Dazu meint der Virologe Dittmer zu watson:

"Mit so einem infektiösen Virus wie Omikron werden wir alle Kontakt haben. Für vollständig Geimpfte ist das medizinische Risiko aber sehr gering. Für Ungeimpfte ist es dagegen weiter sehr hoch, vor allem für über 60-jährige. Das zeigen die Daten aus den USA in erschreckender Weise. Das wird jetzt aber, vermutlich zurecht, da es genug Impfangebote gab, politisch in Kauf genommen."

Auch der Epidemiologe Ulrichs warnt im Gespräch mit watson vor zu schneller Entspannung: "Irgendwann wird es so kommen, dass wir in der Tat die Coronaviren, ähnlich wie die saisonalen Influenzaviren als zusätzliches Infektionsrisiko haben werden – aller Voraussicht nach auch saisonal zu Herbst/Winter. Doch noch ist es nicht soweit."

Der immer noch hohe Anteil Ungeimpfter berge seiner Ansicht nach das Risiko weiterer Infektions- und Erkrankungswellen – sogar über den Frühling und Sommer. Ulrichs sieht den einzigen Ausweg in einer, gerade im Bundestag gescheiterten, Impfpflicht.

Ulrichs appelliert aus diesem Grund: "Nur über eine gute Grundimmunität in der Population bannen wir das Risiko weiterer Wellen und beenden damit die Pandemie in Deutschland. Dieses Ziel lässt sich leider nur noch über eine Impfpflicht erreichen."

Durchseuchung bei Ungeimpften zwecklos

In der aktuellen Infektionslage kann von einer Entspannung grundsätzlich noch nicht ausgegangen werden. Ganz im Gegenteil, die Infektionszahlen sind trotz laut RKI fallender Tendenz (Stand 8. April 2022) immer noch sehr hoch und für Ungeimpfte bedeutet das im Klartext: Dass sie "einer Ansteckung so gut wie nicht mehr entgehen können", so formulierte es Gesundheitsminister Lauterbach in einer Pressekonferenz Ende März.

Wird mit den Lockerungen zum jetzigen Zeitpunkt also einer "Durchseuchung" stattgegeben? Prof. Ulf Dittmer hat darauf eine eindeutige Antwort: "Ja, es wird eine Durchseuchung geben. Sie findet ja schon statt. Für die Geimpften ist das medizinisch zu vertreten, für ungeimpfte ältere Menschen gefährlich, aber das hat Herr Lauterbach schon ziemlich deutlich kommuniziert."

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Gerade in der höchsten Risikogruppe finden sich viele Skeptiker und Gegner von staatlichen Corona-Maßnahmen.Bild: www.imago-images.de / IMAGO/Piero Nigro

Der Epidemiologe Ulrichs teilt diese Ansicht:

"Die Durchseuchung haben wir längst. Die Omikronvariante ist sehr fit bezüglich einer schnellen Ausbreitung. Eine Infektion mit ihr führt bei dreimal Geimpften zu einer Boosterung und zu einer Verstärkung der lokalen Immunantwort im Nasenrachenraum. Bei Ungeimpften hinterlässt eine Omikroninfektion leider nur selten einen bleibenden Eindruck. Das heißt, wir haben zwar eine Durchseuchung, aber diese trägt nur in Teilen zur Erreichung einer Grundimmunität in der Population bei."
Prof. Timo Ulrichs gegenüber watson

Erst mit einer soliden Grundimmunität müssten wir, so Ulrichs weiter, keine Sorge um weitere Wellen haben, auch nicht um weitere Varianten. "Und wir müssen auch nicht ständig nachimpfen, weil die saisonal auftretenden Coronaviren für eine natürliche Aktualisierung beziehungsweise Auffrischung sorgen werden – und damit sich selbst bremsen hinsichtlich einer wellenartigen Ausbreitung."

Dennoch sei es sinnvoll, in der aktuellen epidemiologischen Lage ein Minimum an Maßnahmen aufrechtzuerhalten: FFP-2-Maskentragen, Abstände einhalten und eine Isolierungspflicht für Erkrankte.

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