Leben
Der Chef ganz ehrlich

EM 2024 in Deutschland: Nach dem Finale – endlich ist das Turnier Geschichte

Die EM 2024 war auch für die Redaktionen eine echte Herausforderung.
Die EM 2024 war auch für die Redaktionen eine echte Herausforderung.bild: chatgpt
Der Chef ganz ehrlich

Die EM 2024 ist Geschichte – und ich bin jetzt auch echt froh, dass sie vorbei ist

15.07.2024, 09:5215.07.2024, 13:29
Mehr «Leben»

Die Fußball-EM ist vorbei. Und ich schreibe jetzt einen Satz, den man von mir sehr selten hört. Und schon gar nicht öffentlich: Ich kann nicht mehr.

Die vergangenen vier Wochen gehörten zu den kräftezehrendsten Phasen meines Lebens als Führungskraft. In meiner Kolumne will ich davon berichten – und auch erklären, warum ich es wichtig finde, in dieser Sondersituation gezielt bis an die Grenzen gegangen zu sein.

Ich weiß, dass ich zumindest in der letzten Woche des Turniers nicht mehr verbergen konnte, dass die Kräfte schwinden. Als ich zum Spätdienst ins Büro kam, fragte mich eine Kollegin, ob es mir gut gehe. "Ich habe dich erst mal in Ruhe gelassen, du sahst gestresst aus." Und ein paar Stunden später wollte mein Spätdienstpartner wissen, ob ich froh sei, wenn's rum ist. "Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du am extremsten durchziehst von uns allen."

Aus dem Leben einer Führungskraft
Wie führt man Menschen der Generation Z und die jüngere Hälfte der Generation Y modern und erfolgreich? Seit mehreren Jahren versuche ich, das herauszufinden, weil die allermeisten meiner Kolleg:innen 18 bis 35 Jahre alt sind. In meiner Kolumne "Der Chef ganz ehrlich" möchte ich meine Erfahrungen und Gedanken zum Leben als Vorgesetzter teilen. Subjektiv und direkt, durch die Brille einer Führungskraft. Alle Namen sind natürlich anonymisiert. Und nicht jedes Erlebnis stammt aus der watson-Redaktion. Feedback, Gedanken und Themenvorschläge gerne jederzeit an swen.thissen@stroeer-publishing.de.

Letzteres würde ich nicht bestätigen, weil mein ganzes Sportteam in den vergangenen vier Wochen Außerordentliches geleistet hat. Ersteres kann ich wohl nicht leugnen. Und ich will mich darüber auch nicht beschweren. Denn es war eine bewusste Entscheidung.

In extremen News-Situationen gehen die Uhren in Nachrichtenredaktionen anders. Und eine Europameisterschaft ist eine sehr extreme Situation, wenn auch eine planbare: Unser Sportdesk in der Redaktion war täglich 18 Stunden besetzt. Wir haben in vier Wochen rund 500 Artikel über die EM geschrieben, 25 Prozent aller Spiele live im Stadion begleitet, 51 Spielberichte zu 51 Partien erstellt und einen Podcast über Toni Kroos an den Start gebracht. Und: Eine achtstellige Zahl an User:innen haben unsere EM-Texte gelesen. Für watson-Verhältnisse ist das eine gigantische Bilanz.

Und ich war, ganz bewusst, mittendrin.

Hier hörst du Folge 1 unseres Podcasts "Toni Kroos – The Underrated One":

Das ist, so ehrlich muss ich sein, nicht normal. Denn meistens sieht mein Arbeitsalltag anders aus. Im Normalfall besteht meine Arbeitswoche zu 90 Prozent aus Führungsaufgaben in unterschiedlichen Facetten. Dafür werde ich bezahlt. Und das erwarten nicht nur meine Chefs, sondern auch mein Team von mir.

Zur EM war das anders. Weil ich der Meinung bin, dass in extremen Lagen der Chef selbst mitanpacken muss, statt nur Forderungen in den Raum zu rufen. Also habe ich getan, als wäre ich Sportredakteur. So wie früher, als ich noch bei Sky gearbeitet habe. Ich habe Spätdienste abgerissen, ein Wochenende als Sportschreiber ausgeholfen, Themen angeschoben.

Als die Uefa dann noch entschied, dass sie watson im großen Stil für die EM-Partien akkreditiert, bin auch ich in Stadien gefahren. Für uns als junges Nachrichtenportal, das erst seit einigen Jahren online ist, ist das auch eine Auszeichnung, weil viele Journalist:innen leer ausgingen.

Berlin, München, Düsseldorf, Dortmund, Düsseldorf, Berlin, Leipzig, Berlin, München, Stuttgart, München, Berlin. Das war meine Route zwischen dem Arbeitsort Berlin, dem Wohnort München und den Standorten der Spiele. In zwölf Tagen.

06.07.2024, Bayern, Herzzogenaurach: Fußball: EM, nach dem Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft, Pressekonferenz DFB, Bundestrainer Julian Nagelsmann beantwortet die Fragen von Journalisten. F ...
Bundestrainer Julian Nagelsmann macht gerade Urlaub. Den brauche ich auch mal wieder.Bild: dpa / Federico Gambarini

Die Idee, die EM und meine eigene Erschöpfung in dieser Kolumne zum Thema zu machen, kam mir vor zwei Stunden, auf dem Heimweg aus der Redaktion. Weil ich glaube, damit nicht nur für unsere Leser:innen erklären zu können, was in einer Redaktion während einer EM oder WM in Deutschland hinter den Kulissen passiert, sondern auch, weil ich an einem Praxisbeispiel aufschreiben kann, wie ich Führung auch interpretiere.

Ich bin überzeugt: Wer junge Menschen führen darf, und das mache ich bei watson, der sollte, zumindest im Journalismus, auch selbst vorangehen, wenn die Lage es erfordert. Ja, es ist wichtig, Verantwortungen abzugeben und intelligent zu delegieren. Aber ab und zu schadet's auch nicht, einfach mal selbst zu machen.

In diesem Fall, das gehört auch zur Wahrheit, kann ich das auch fachlich leisten. Ich habe mein Studium mit Sportjournalismus finanziert, ich war Sportredakteur, ehe zuerst Social Media und dann Führungsaufgaben den Karriereweg veränderten.

10.07.2024, xjrdrx, Fussball EM 2024 1/2 Finale, England - Niederlande emspor, v.l. Niederl
Wenn eine EM vorbei ist, weiß man nicht mehr so recht, wo links und rechts ist.Bild: imago images / jan hübner

Gleichzeitig hilft das aktive Mitarbeiten, um das Gefühl für die Arbeit der Redaktion nicht zu verlieren. Wie hoch ist die Arbeitsbelastung nach dem dritten Spiel an einem Tag? Wie stressig ist es, zu zweit bis 1 Uhr in der Redaktion zu sitzen? Welche Texte werden wann von den Menschen gelesen? Und wie sieht das Suchverhalten der Leser:innen im Livebetrieb aus? All diese Aspekte versteht man besser, wenn man sich auch als Chef mal wieder selbst an den Newsdesk setzt.

Und ich weiß auch, dass jede Schicht, die ich übernehme, andere Kolleg:innen entlastet. Allein schon aus Gründen der Kollegialität war's für mich selbstverständlich, die EM in Deutschland so eng zu begleiten.

EM 2024: Andere Themen verschwinden nicht wegen des Fußballs

Dennoch war es eine Grenzerfahrung. Denn: Die anderen Aufgaben verschwinden nicht, nur weil Deutschland wegen einer Fußball-EM durchdreht.

Meine Chefredaktionskolleginnen Ronja und Jana haben mir so gut es ging den Rücken freigehalten, aber ich kann nicht für vier Wochen alle anderen Aufgaben ignorieren. Ich war dennoch in Themenbesprechungen, ich habe dennoch die Finanzplanung übernommen, ich habe dennoch Personalentscheidungen getroffen und Bewerbungsgespräche geführt. Kurz: Ich war dennoch Chefredakteur für alle anderen Teams, die sich nicht mit Fußball beschäftigen.

Die Folge ist, dass ich zu viel gearbeitet habe. Meist hatte ich schon sechs bis acht Stunden auf der Uhr, ehe ich zum Spätdienst in die Redaktion ging.

Heute spüre ich, dass ich dieses Pensum nicht dauerhaft leisten könnte (und auch nicht wollte). Aber ich weiß auch, dass es im Sportjournalismus nichts Größeres gibt als eine WM oder EM im eigenen Land. Jede:r von uns wird in 30 Jahren noch wissen, wie wir dieses Turnier beruflich begleitet haben.

Das Schöne für mich ist: Ganz egal, wie sehr ich mich gerade durch den Fleischwolf gedreht fühle, ich würde es genauso wieder machen. Weil ich Spaß daran hatte. Weil mein Team einen sensationellen Job gemacht hat. Weil wir erfolgreich waren. Weil ich Sportgeschichte journalistisch begleitet habe.

Für mich habe ich dabei auch festgestellt: Sollte ich irgendwann nicht mehr das Feuer haben, in solch einer Situation wie der EM so durchzuziehen, braucht meine Redaktion eine neue Führungskraft. Denn dann hätte ich den Spaß und die Leidenschaft für meinen Job verloren.

Stattdessen werde ich nun ein klein wenig vom Gas gehen, wieder pünktlicher Feierabend machen und die Akkus wieder aufladen. Denn auch das ist es, was eine Führungskraft können muss: zu entscheiden, wann man im sechsten Gang fahren muss – und wann auch mal der dritte reicht.

Die EM in Deutschland war sensationell. Und nun bin ich auch froh, dass sie vorbei ist.

Urlaub: Griechenland plant neue Gebühr für Kreuzfahrt-Passagiere

Sie kommen für wenige Stunden, überfluten die Stadt und belassen ihr Geld aber auf der See: So lautet einer von mehreren Vorwürfen gegen den Kreuzfahrttourismus und deren Passagier:innen. Die großen Hotelschiffe sieht man regelmäßig in den Häfen europäischer Großstädte anlegen, die aber immer mehr gegen Massentourismus und Kreuzfahrtschiffe vorgehen.

Zur Story