Spotify hat ein Problem. Oder eigentlich mehrere Probleme. Diese tragen ganz normale Namen, heißen etwa Amandine Moulin. Moulin ist laut Biografie eine Künstlerin, die Ende 2022 in einer Playlist mit dem Titel "Peaceful Piano" auftaucht. Eine Playlist, die beim "Entschleunigen, Atmen und Relaxen" helfen soll. Sie ist eine der erfolgreichsten Playlists auf Spotify, hat bereits rund sieben Millionen Likes.
Die Künstlerin Moulin stammt laut den Angaben bei Spotify aus Paris. Die klassisch ausgebildete Pianistin entschied demnach 2019, selbst Songs zu schreiben. Offenbar erfolgreich. Ihr erfolgreichster Track, "La Vie", zählt mehr als 13 Millionen Streams.
Das Problem: Amandine Moulin existiert so nicht. Hinter der Musikerin steckt eigentlich ein Mann, der mit zahlreichen anderen falschen Künstler:innen in Verbindung steht. Klingt zunächst wenig problematisch. Doch bei genauerer Betrachtung offenbart sich der kritische Punkt: Künstler:innen, die aufwendig Musik produzieren, sind durch sogenannte Geistermusik im Nachteil.
Ein Team von Reporter:innen des BR ist der Sache auf den Grund gegangen und hat herausgefunden: Ein schwedischer Mann steckt hinter vielen Musiker:innen, die angeblich schillernde Biografien vorweisen – aber eben nicht existieren. Wie der BR herausgefunden hat, sind insgesamt sogar mehr als 100 Namen mit dem Schweden verbunden. Das geht aus der Datenbank der amerikanischen Verwertungsgesellschaft für Musik (ASCAP), vergleichbar mit der deutschen GEMA, hervor.
Die Bios der Geistermusiker:innen vermitteln den Hörer:innen einen falschen Eindruck. So sagt etwa Linus Larsson, Technik-Journalist bei der schwedischen Tageszeitung "Dagens Nyheter", dass diese Musiker:innen "Fake Artists" seien. Sie vermitteln mit schillernd klingenden Storys falsche Informationen: dass sie aus anderen Ländern wie Italien oder Island stammen, zum Beispiel. Stattdessen stecke eine Gruppe schwedischer Produzenten dahinter.
Eine Art Geistermusiker:innen. Allerdings mit blauen Haken, sie sind also von Spotify verifiziert.
Und offenbar werden die Songs, die sie produzieren, immer mehr. Wie eine Auswertung für die ARD-Doku-Serie "Dirty Little Secrets" ergab, stammten Ende des vergangenen Jahres auf der "Peaceful Piano"-Playlist mit ihren rund 300 Titeln mehr als 60 Prozent der Songs von sogenannten Geistermusiker:innen. Die Artists haben laut Recherchen jeweils eine Verbindung zu kleineren Labels, wie etwa "Firefly Entertainment". Es stammt aus Schweden, ebenso wie Spotify.
Es gibt dem Bericht zufolge auffällige Verbindungen, die durchaus als fragwürdig bezeichnet werden können. So zitiert der BR Linus Larsson von "Dagens Nyheter", der behauptet, dass Firefly Entertainment "eine persönliche Beziehung zu einem ehemaligen Spotify-Manager hat, der noch dazu das gesamte Konzept der Playlisten entwickelt hat".
Tatsächlich finden sich auf Social Media Fotos der beiden Männer, die sie beim gemeinsamen Reisen zeigen.
Laut BR-Recherchen ist die Geistermusik-Sache für die Künstler:innen ebenso wie für den Streamingdienst eine Win-win-Situation. Demnach bekämen die Macher von Geistermusik pro Track weniger Ausschüttung. Zwar gebe es im Gegenzug keine Garantie dafür, in reichweitenstarken Playlists platziert zu werden. Eine bestimmte Anzahl von Tracks werde pro Woche aber in Playlists aufgenommen.
Dem Vorwurf etwas entgegenzusetzen hat die für den deutschsprachigen Raum zuständige "Head of Music" von Spotify, Conny Zhang. Sie sagt gegenüber dem BR: "Man kann sich bei uns in keiner Playlist einkaufen. Playlisten werden komplett unabhängig kuratiert. Das kann ich auf jeden Fall betonen." Trotzdem: Es gibt viele von Spotify kuratierte Playlists, in denen sich Geistersongs finden. Presseanfragen bei "Firefly Entertainment" und dem eingangs erwähnten Mann in Schweden blieben ohne Ergebnis.
Beweise für die Art der Verbindung zwischen Spotify und den kleinen Labels gibt es zwar nicht. Klar ist aber: Geistermusiker:innen sind ein Problem. Denn: Sie werden millionenfach gestreamt und veröffentlichen neue Tracks in Rekordgeschwindigkeit. Dabei handelt es sich meist um einfache Akkordabfolgen, die vielfach nicht länger als zweieinhalb Minuten dauern.
Die hohen Summen, die Geistermusiker:innen damit einsacken, fehlt an anderer Stelle. Etwa bei Musiker:innen, die hochqualitative Tracks produzieren.
Grund dafür ist das Bezahlsystem, das aktuell auf Spotify herrscht. Nach dem "Pro-Rata-Modell" fließt das Geld in einen großen Gesamt-Pool, der an alle Artists verteilt wird, je nach Anteil der Streams. Damit geht das Geld nicht direkt an die Künstler:innen, die die Nutzer:innen hören.
Deshalb gab die Bundesregierung bereits 2022 eine Streaming-Studie in Auftrag, die sich mit Verteilungsproblemen beschäftigt. Das Ziel: eine gerechtere Verteilung der Streaming-Einnahmen. Erste Ergebnisse sollen jedoch erst Ende des Jahres bereitstehen. Das britische Unterhaus ist da schon weiter. Es hat bereits 2021 eine solche Untersuchung durchführen lassen. Mit klarem Ergebnis: Streaming braucht demnach einen kompletten Neustart.