Diesen Text zu verfassen, bedeutet, sich eine Niederlage einzugestehen, denn ich wollte das neue Musical "&Julia" verabscheuen. Ich schwör's!
Zum einen bin ich bereits verschrien als die Musical-Tante, die eh alles toll findet, solange es nur blinkt und schallt. Zum anderen klang schon die Ankündigung dieses neuen Hamburger Musicals, das am 30. Oktober 2024 auf der Reeperbahn im Operettenhaus Premiere hatte, für mich wie ein Albtraum.
"& Julia" sei eine moderne, lustige Adaption von Romeo und Julia, wurde mir gesagt. Mit den bekanntesten Popsongs der vergangenen dreißig Jahre. Also was für Millennials. Vielleicht noch sehr alte Gen-Z's. "Romantisch und rebellisch, mit starken Beats zum Mittanzen", wirbt es auf der Website von On Stage Entertainment. Soso.
Mein erster Impuls? Das kann ja nur peinlich werden! Ich liebe Shakespeare und hasse "freche" Alternativ-Versionen, in denen Julia das Outfit ihrer Freundin "cute" und "nice" findet. Ein gutes Stück verdient eigene Kompositionen, die Ton und Dramatik der Handlung weitertragen. Keine Popsongs, die aus dem Kontext gerissen und irgendwie in eine Geschichte gewurstet werden. Fand ich.
So saß ich da im Publikum und freute mich geradezu, wenn ein Ton eigenartig klang ("Tja, nur Britney Spears kann eben Britney Spears", dachte ich noch gehässig) oder ein Handlungsstrang unausgegoren wirkte. Buzzing mit Negativität. Ziemlich genau 12 Minuten lang.
Meine Begleitung lehnt sich zu mir und flüsterte: "Ist super, oder?" Und sie hatte völlig recht. Die Wahrheit war: Die Witze waren wohlgesetzt, der Cast toll, die Kostüme clever. Auch meine Mundwinkel zuckten hier und da schlaganfallartig, der Fuß hatte bei "Larger Than Life" bereits rhythmisch gewippt. Wem wollte ich etwas beweisen? Ich ließ los. Als Jessie J's "Domino" erklang, war ich schon voll drauf, auf dem Spaßzug.
Ich hätte ihm auch kaum entkommen können. Die drei Frauen hinter mir lachten so laut, dass die Freudentränen spritzten. Mein Sitznachbar links, Typ Ehemann aus Bremerhaven, gab spontan Zwischenapplaus als die queere Rolle "May" eine kleine Rede zum Thema Genderfreiheit zum Besten gab.
Kein Scherz: gleich dreimal gab es inmitten des Stückes sogar Standing Ovations. So überschwänglich, dass die Darsteller:innen auf der Bühne fassungslos den Kopf schüttelten. Star des Abends? Willemijn Verkaik, deren Stimme und humoristisches Timing auf die Zwölf war.
Es war eigenartig. Ich war verblüfft. Alles an "&Julia" hätte peinlich sein müssen – aber es funktioniert. Das ist ein richtig unterhaltsames Stück.
Immer dann, wenn das Gefühl einsetzt: "Na, jetzt wird es aber doch ein bisschen 'uff' mit der Jugendsprache und der betulichen Selbstentfaltung", kam exakt das erholsame Augenzwinkern, was es brauchte, um die Fremdscham wieder aufzulösen. Ein Glück.
Die Handlung ist dabei hochgradig abstrus: William Shakespeare und seine Frau Anne Hathaway (ebenjene Willemijn) streiten sich um das Ende von "Romeo & Julia". Sie spielen mit dem Gedanken, was wohl passiert wäre, hätte Julia sich nicht umgebracht, sondern ein neues Leben in Paris gestartet.
Auf diesem Mädels-Trip der Selbstfindung begleitet sie ihre Amme, ihr:e Freund:in May und die Popsongs der 90er und 2000er Jahre. Die Darsteller performen die größten Hits von Britney Spears, Backstreet Boys, *NSync, Katy Perry, Jon Bon Jovi, Ariana Grande, Céline Dion, Ellie Goulding und Kelly Clarkson.
Wie ist es überhaupt möglich, die Lizenzen für alle diese Mega-Hits zu bekommen ("I Kissed a Girl", "Love Me Like You Do", "Everybody" etc.)? Der Clou ist, dass sie alle aus derselben Komponisten-Feder stammen, nämlich der des schwedischen Produzenten Max Martin. Dem William Shakespeare der Popmusik, sozusagen.
Ein Gigant in der Szene. Dieses Musical wird ihn wohl noch reicher machen.
Wirklich schlau, solch ein Stück noch vor der Weihnachtszeit an den Start zu bringen, schließlich eignet es sich ideal als Geschenk für so ziemlich alle, die in den letzten dreißig Jahren irgendwie mal die Charts gehört haben. Insbesondere natürlich Millennials, die sich vollständig in ihre Jugend träumen können.
"&Julia" ist Mainstream, gute Laune, Nostalgie. Es ist pyro und knallig und ohne Hintergedanken. Ach ja, buntes Konfetti regnet es auch noch in den Zuschauerraum.
Wer es nicht mögen könnte? Menschen, die sich für Pop zu schade sind. Oder für Spaß. Menschen, die Céline Dion oder Hamburg verabscheuen. Menschen, die ein Problem mit queerer Liebe und aufmüpfigen Frauen haben. Menschen, die keine 60 Euro für ein Ticket ausgeben wollen (fair Point, da gehen die Eintrittspreise in etwa los).
Allen anderen sei gesagt: Macht schon Spaß, dieses Musical. Romantische Tragödien sind eh sowas von 1597.