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Warum wollen alle nach Berlin? Vor- und Nachteile zum Leben in der Hauptstadt

Museum island on Spree river and Alexanderplatz TV tower in center of Berlin, Germany
Postkartenmotive gibt es in Berlin ohne Ende. Noch spannender wird es, wenn man hinter die Fassade blickt.Bild: getty images / TomasSereda / istock
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Berlin nervt – dennoch verstehe ich, warum viele junge Menschen in die Hauptstadt wollen

25.12.2023, 11:34
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Am Morgen meines finalen Vorstellungsgesprächs in Berlin stolperte ich auf der Suche nach Kaffee gegen 8 Uhr verschlafen aus meinem Hotel. Ich drehte mich nach links, ging drei Schritte in Richtung Bäckerei und sah, wie ein Mann – Mitte 20, bestens gekleidet und offensichtlich mit ein paar Tabletten im Körper – plötzlich vor mir stehen blieb.

Er steckte sich die Kippe in den Mundwinkel, drehte sich demonstrativ in Richtung Hauptverkehrsstraße, griff in seine Hose, packte aus, begann mit seinem Ding zu wedeln und brüllte mit amerikanischem Akzent voller Überzeugung: "Lutscht mir meine Eier, ihr Wichser."

Ich schaute verwirrt an ihm vorbei, machte mich auf den Weg in Richtung meines Koffeins und dachte mir: "Willkommen in Berlin. Willst du dir das wirklich antun?"

Als Student wäre ich immer gerne nach Berlin gekommen, konnte mir einen weiteren Umzug aber nicht leisten. Irgendwann habe ich für mich beschlossen: Jetzt ist's zu spät, ich bin zu alt für diese Stadt. Dann kam eine Anfrage von watson; ein Jobangebot, das ich nicht ablehnen konnte – und plötzlich lebe ich, weil ich für den Job von München nach Berlin pendle, doch rund die Hälfte des Jahres hier.

Menschenleere Straßen am Brandenburger Tor können nur extreme Frühaufsteher:innen erleben.
Menschenleere Straßen am Brandenburger Tor können nur extreme Frühaufsteher:innen erleben.Bild: pexels / naro k

Wenn man bei Google "Warum wollen alle" eingibt, schlägt einem die Suchmaschine die fehlenden Wörter vor, nach denen die meisten anderen Menschen suchen. Auf Platz eins: "nach Berlin". Noch vor "studieren", "zum Mond" oder "reich sein".

Es gibt viele Vorurteile über Berlin, die stimmen

Es ist eine gute Frage. Es gibt genügend Gründe, Berlin scheiße zu finden. Berlin ist laut, Berlin ist groß, Berlin ist chaotisch und manchmal auch dreckig. Und ja, wer in die U8 steigt, braucht Glück, um die Fahrt zu beenden, ohne sich Herpes eingefangen zu haben.

Manche Vorurteile über Berlin stimmen, daran gibt es keinen Zweifel.

Doch je länger ich in Berlin bin, desto mehr erkenne ich, wie gut wir in Deutschland darin sind, unsere Hauptstadt unnötigerweise schlechtzureden. Oder vergleichbare Missstände in anderen Städten zu ignorieren.

Der Verkehr in Berlin ist ätzend. Aber bist du schon einmal durch Stuttgart gefahren? Der Flughafenbau war ein Desaster. Aber warum regt sich in Deutschland niemand darüber auf, dass der Umbau des Hauptbahnhofs in München 20 Jahre dauert? Berlin hat dreckige Ecken. Aber bist du schon mal nachts um 3 Uhr durch die Seitenstraßen der Hamburger Reeperbahn gegangen?

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Aber genug des Whataboutisms: Was mir in den Gesprächen zu Berlin viel zu kurz kommt, sind all die Dinge, die an dieser Stadt großartig sind: die kulturelle Vielfalt, die bunteste Gastronomie des Landes, die Geschichte, die Parks, die wundervollen Möglichkeiten von Spaziergängen, die wahrlich unendlichen kulturellen Angebote, die Weltoffenheit der absoluten Mehrheit der Bevölkerung, das Nachtleben, die Späti-Kultur. Die Liste ist endlos erweiterbar.

Hinzu kommt, dass in Berlin jede:r einen Kiez finden kann, der zu einem passt. Berlin hat nicht nur irgendwelche Stadtteile, sondern viele, viele Dörfer in der Großstadt. Ob hip oder alternativ, ob gutbürgerlich oder wild, ob teurer oder einfacher: Berlin bietet jedem eine Heimat, in der man leben kann, wie man möchte; mit einem Kiez, in dem man alles finden wird, um nicht ständig durch die halbe Stadt fahren zu müssen.

Nach zwei Jahren in Berlin möchte ich behaupten: Der Berlin oft nachgesagte Hype um die Stadt ist kein Hype. Es ist die einzig logische Entwicklung in einer City, von der wir endlich anerkennen sollten, dass es die einzige Weltstadt Deutschlands ist.

Berlin, Germany - april 30, 2017: People at park (Mauerpark) on a sunny day in Berlin, Germany.
Wochenende im Mauerpark: so schön, so bunt, so abwechslungsreich.Bild: getty images / hanohiki

Ja, Berlin ist laut, groß, anstrengend und mittlerweile auch zu teuer. Wie Paris, Madrid oder Chicago auch.

Und kommt mir jetzt bitte bloß nicht mit New York. New York ist die Hauptstadt der westlichen Welt. Keine andere Stadt ist wie sie. Doch hinter all den anderen Metropolen muss sich Berlin nicht verstecken. Auch wenn das die grummeligen Deutschen nicht wahrhaben wollen.

Berlin wächst und wächst: 3,8 Millionen Einwohner:innen

2022 lebten fast 3,8 Millionen Menschen in Berlin, so viele wie noch nie und rund zwölf Prozent mehr als vor zehn Jahren. Es ziehen konstant mehr Menschen in diese Stadt, als zeitgleich wieder wegziehen. Die seit der Coronapandemie oft besprochene Stadtflucht existiert hier nicht.

Man kann in Bayern, und das sage ich als Wahlmünchner, noch so oft behaupten, in Berlin würde nichts funktionieren: Entscheidend ist, wie gut die Menschen, die in Berlin leben, die Stadt finden. Und die Einwohnerentwicklung spricht eine eindeutige Sprache. So kacke kann's hier nicht sein.

Es gibt wenige Städte auf der Welt, die die Geschichte so sehr atmen wie Berlin.
Es gibt wenige Städte auf der Welt, die die Geschichte so sehr atmen wie Berlin.Bild: pexels / cottonbro studio

Das Bemerkenswerte an Berliner:innen ist der Umgang mit der eigenen Stadt. Sie mögen sie, ohne von ihr eingenommen oder begeistert zu sein. Kein Mensch würde über Berlin Liedzeilen wie "Et gitt kei Wood, dat sage künnt, wat ich föhl, wann ich an Kölle denk" oder "Hamburg, meine Perle, du wunderschöne Stadt, du mein Zuhaus, du bist mein Leben" singen.

Gleichzeitig erträgt man in Berlin ganz ohne die aus Süddeutschland bekannte Grantlerei, dass genügend Dinge schiefgehen. Was durchaus auch mit der Historie zusammenhängen dürfte: Berlin kann nicht ignorieren, über Jahrzehnte hinweg eine geteilte Stadt gewesen zu sein.

Manche Spuren sind eben noch heute sichtbar. Und sei es nur die Tatsache, dass es im ehemaligen West-Berlin keine Straßenbahnen gibt, weil diese nur in der DDR gebaut wurden. Das macht einen intelligent abgestimmten ÖPNV zur Herkulesaufgabe.

In Berlin erwarten die Menschen nicht, dass die Stadt perfekt ist

Dieses Mindset strahlt wiederum auch auf die Menschen ab. Berliner:innen erwarten nicht, dass ihre Stadt perfekt ist; und tun das ebenso wenig von ihren Mitbürger:innen. Stattdessen strahlen sie Gelassenheit aus.

Als mich im Sommer eine Freundin aus München besuchte, schaute sie beim Frühstück der Kellnerin hinterher und sagte ehrlich beeindruckt: "Es ist schon erstaunlich, wie normal es hier ist, dass jede zweite Frau ohne BH rumrennt. Das würde ich gerne mal in München erleben."

Das mag wie ein banales Beispiel klingen, trifft den Nagel aber auf den Kopf. Ich habe (in Deutschland) noch nie in einer Stadt gelebt, in der Menschen so sehr sie selbst sein können. Wer du bist, woher du kommst, was du trägst, wen du liebst, wie du aussiehst und welche Sprache du sprichst, das spielt an sehr, sehr vielen Orten Berlins keine Rolle. (Was nicht heißen soll, dass es nicht auch in Berlin intolerante Arschlöcher gibt. Ich will die Stadt nicht glorifizieren.)

One of the most popular beach bars in Berlin on the banks of the Spree. In the background, the German Chancellery.
Hinten das Regierungsviertel, vorne ein Beachclub an der Spree.Bild: getty images / mkrberlin / istock

Dieser Spirit ist es, der junge Menschen aus dem ganzen Land und der ganzen Welt anzieht. Die sorgen wiederum dafür, dass sich die Stadt immer weiter entwickelt und verändert. "Berlin ist in einer Art Dauerpubertät", hat Stressforscher Mazda Adli einmal gesagt.

Ich war mir nicht sicher, wie sich das anfühlt, wenn man mal mehr Zeit als das touristische verlängerte Wochenende in Berlin verbringt. Heute stelle ich fest: Es ist etwas, was es in Deutschland so nur in der Hauptstadt gibt. Weshalb ich sehr, sehr gut nachvollziehen kann, warum so viele junge Menschen unbedingt nach Berlin wollen. Auch wenn ich mich freue, seit dem Morgen meines Bewerbungsgesprächs keinen freischwingenden Penis mehr auf offener Straße gesehen zu haben.

Doch selbst wenn ich's erneut sehen müsste, würde ich das tun, was man als Berliner:in macht: Ich rede nicht darüber, was mich an dieser Stadt stört. Sondern genieße lieber, was mich an ihr fasziniert.

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